Mit Überschriften ist es so ein Kampf. Nicht selten, dass der Text fertig ist aber die Überschrift fehlt. Sie soll das Kommende ankündigen und dafür interessieren, aber nichts vorwegnehmen. Und dann auch noch gut klingen. Gar nicht einfach. Hier stimmt wenigstens die Andeutung „können, müssen und sollen“, drei Begriffe, die verschiedene Ebenen symbolisieren, jedoch im „Manifest der 185“ und der folgenden Debatte vermischt werden. Und nicht unbedingt zum Positiven.
Erstens: Was will der Aufruf bezwecken? Wachrütteln, aufmerksam und sensibel machen für ein wichtiges Thema. Gut, absolut in Ordnung, es ist wichtig, die Mechanismen und Missbräuche aufzudecken und dazu die Leerstellen, die niemand im Blick hat. Zumindest in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in den Debatten der Zeitungen, Feuilletons und Blogs (wie hier) haben wir das schon lange. Von den sogenannten „sozialen Medien“ ganz zu schweigen, die Skandale nun einmal überall „sehen“ wollen oder müssen. In anderer Hinsicht aber wird es problematisch: Wie einige gute Rechercheure festgestellt haben, fehlt bei dem Aufruf die Alterskohorte der Männer von 30-50 Jahren. Ulrich Matthes et.al sind dabei, gut so, aber für die ist das Risiko, bei aller Liebe, gering. Was heißt das? Ist der Aufruf selbst oberflächlich, weil ein wesentlicher Teil der Betroffenen nicht dabei ist, sich vielleicht nicht traut? Oder ist er ein gewichtiger Beweis, wie wichtig und notwendig das Nach-Außen-Treten ist, eben weil sich nach wie vor viele nicht trauen, sich zu outen?
Zweitens: Was impliziert der Aufruf? Die Bitte, prominent vorgetragen von Ulrike Folkerts, dass doch bitte jeder alles spielen können muss oder soll. Da sage ich voller Inbrunst: Gut so! Genau! Die Stoßrichtung ist klar: Ich bin eine lesbische Frau, darf, soll und muss aber eine in Trauer versinkende heterosexuelle Mutter spielen dürfen, die ihre tote Tochter vermisst und ihren Mann verflucht. Dann fragen wir weiter: Warum verzichtete Scarlett Johansson vor zwei Jahren auf die Rolle des Transmannes Dante Gill im Film „Rub & Tug“? Weil wieder einmal die berühmten „sozialen Medien“ angeführt von einigen apokalyptischen Reiter*innen ihr vorwarfen, sie würde Transgender jeglicher Art nicht „repräsentieren“ können, da sie eben eine heterosexuelle Frau sei. Oder Julianne Moore, die neulich kritisch hinterfragte, ob sie die Rolle in „The kids are alright“ gut spielen konnte, da sie eben keine lesbische Frau sei (Spoiler: ja!, konnte sie!). Wer hier einen krassen Widerspruch sieht, der hat Recht. Punkt.
Drittens: Hier könnten wir aufhören und sagen: Was für die einen gilt, sollte auch für die anderen gelten. Oder?! Nun ja, jetzt wird’s kompliziert, denn der eigentümliche Begriff der Repräsentation kommt ins Spiel. Nein, es ist halt nicht das exakt Gleiche, denn Heterosexuelle sind zweifellos anders repräsentiert im Film- und Kunstgewerbe als LGBT. Daraus folgt: Ungleiches auch ungleich behandeln, genau hinschauen, ermutigen und fördern, wo es nur geht. Was nur so elend nervig und bescheuert bleibt, ist die Forderung gegenüber Scarlett Johansson, auf die Rolle zu verzichten, eben weil sie kein Transgender ist. Denn dann rückten wir genau das Merkmal in den Vordergrund, das doch alle Aufrufe und Initiativen dieser Welt im Hintergrund sehen wollen: die sexuelle Identität, und dass sie als Grund herhalten muss, jemandem eine Rolle, einen Job oder was auch immer zu verweigern. Nicht versteckt soll sie werden, aber einfach nicht mehr relevant für Entscheidungen sein.
Was sehen wir? Es vermischt sich ein gesellschaftlich-moralischer Diskurs mit einem künstlerischen. Wir wollen alle offen sein, jeden nach seiner Façon leben lassen, und dafür lohnt es sich, genau hinzuschauen. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Die Kunst aber hat vor allem die Aufgabe, dies zu reflektieren. Sie soll selbst hinterfragen, nicht in dem anderen aufgehen. Moral war schon immer so eine Sache – und die Kunst war oft genug da, ihr die hässliche Maske zu entreißen. Verzichten wir nicht darauf, indem wir über Themen sprechen, die im Jahr 2021 nicht mehr der Rede wert sein sollten.
David Emling
* Wir sind schon da. In: Zeit Magazin, 5/21, 4. Februar 2021
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