Wilder Südwesten

Monat: Dezember 2020

Weihnachten und politischer Zynismus

Frohes Fest! Das muss gesagt werden und immer wieder gesagt werden, denn die zweitausend Jahre alte Botschaft kündet von Befreiung, Gleichheit, Gerechtigkeit und Liebe. Der Rest ist Muff von zweitausend Jahren unter den Talaren. Freuet Euch alle, nicht nur die Christenheit, denn die Nachricht ist klar: lasst Euch nichts, aber auch gar nichts von Talar- und Krawattenträgern und deren weiblichen Epigonen einreden. Damit sind wir beim Thema.

Schrecklich, diese Bilder von Lastwagenschlangen vor Dover. Nicht vergessen, in jedem der Laster sitzt mindestens ein Nachbar, ein Freund, ein Verwandter, ein Mensch, nicht eine Maschine. Warum stehen die da vor Weihnachten herum? Boris sei Dank. Ohne Not stellt er sich hin, zischelt etwas von 70% infektiöserer Variante, knallt einen Überlockdown seiner Bürgerschaft vor die Füße und hofft klammheimlich, dass die Nachbarn nervös werden. Denen kam das gerade recht, mal so richtig Krawall machen. Blitzartig alle Grenzen zu, Menschen über Nacht im Flughafen einsperren, schaut her, wie stark und mächtig wir sind. Pustekuchen. Kleingeister, Auf-die-nächste-Wahl-Gucker, ungebildeter gesellschaftlicher Bodensatz. Taub für der Virologen Beruhigung. Der ganze Zinnober auf dem Rücken von Menschen, Nachbarn, Verwandten, Freunden, Gästen.
Dem setzen wir ein Krönchen mit den Bildern von in den Wald getriebenen Flüchtlingen auf. Lieber lass ich doch ein paar Leute im Wald verrecken, als dass ich auf die Bilder verzichte mit der tollen Abschreckung für Leute, die meine Nachrichten nicht sehen wollen oder können. Kein Transport in eine vernünftige Unterkunft um die Ecke. Gruselig. Gott schütze unsere Kinder, dass sie dereinst nicht in einem fremden Wald an Weihnachten verrecken.
Der ganz große Preis geht an Boris den Schrecklichen. Nicht vergessen, es gab eine ausverhandelte Vereinbarung zwischen der EU und GB. Und dann kam Boris. Der wollte seinen Spaß wie einst auf der Uni. Verhandlungsklamauk ohne Ende. Barnier & Co. sei Dank, dass die 27 EU-Partner nicht in diesem Tollhaus untergingen. Das Kleinkind Boris ist wohl von zu vielen B-Movies mit Chickenkämpfen verdorben worden (zwei Autos rasen aufeinander zu, wer zuerst ausweicht hat verloren). In seinem Eifer hat er verpasst, dass er schon am Start verloren hatte und Barnier nur die Trümmer auflesen und Heftpflaster an GB verteilen musste. Dafür durfte die EU- Kommission Weihnachten vertagen. Ja, auch dort arbeiten Verwandte, Freunde, Nachbarn.
Ein wackeliger Deal verpackt als Weihnachtsgeschenk, wo keiner weiß, an wen das Geschenk gehen soll, das ist nur die Spitze des Eisberges der alltäglichen Politikzynismen.

Also Leute – höret die zweitausend Jahre alte Botschaft von Befreiung, Gleichheit, Gerechtigkeit und Liebe. Verschließt Augen und Ohren vor den süßen zynischen Gesänge der Andermachtbleibenwollenden (aka Politikerinnen und Politiker).
Frohes Fest.

Philipp Frankfurter

Ich schreibe, also bin ich.

Was Schreiben heute bedeutet? Es ist ja nicht gerade so, dass diese Frage noch niemand gestellt hätte. Als ob es dazu nicht schon genügend Antworten gäbe. Aber vielleicht nur genug ungenügende. Warum sonst sollte jetzt auch noch David Emling das fragen? Nur um seinen Blog zu füllen?

David Emling habe ich in der Darmstädter Textwerkstatt bei Kurt Drawert kennen gelernt. Und schätzen gelernt. David ist nicht der Typ, der fragt, was schon alle gefragt haben, nur weil er es noch nicht gefragt hat. Und doch, so scheint es, hat das Thema ein bisschen diesen Geruch. Oberflächlich gerochen.

Was Schreiben heute bedeutet, weiß ich nicht. Interessiert mich auch nicht. Was David Emling Schreiben bedeutet oder Kurt Drawert, gestern, vorgestern oder morgen und von mir aus auch heute, das interessiert mich schon. Warum sie schreiben. Warum ich schreibe. Grundsätzlich, generell und überhaupt. Oder ganz konkret was. Und warum. Und warum gerade das, was, usw.. Das riecht nach frischer Erkenntnis.

Warum ich schreibe? Ich weiß, warum ich heute schreibe. Heute, an diesem trüben, nassen Dezembermorgen, dem Tag 0 vor dem Tag 1 der neuen Lockdown-Zeitrechnung. Ich schreibe, weil David mich gefragt hat. Und weil ich noch keine Lust habe, mit meinem Tagesgeschäften anzufangen. Die auch was mit Schreiben zu tun haben. Auftragsarbeiten. Die nix mit mir zu tun haben. Außer dass ich mit ihnen zu tun habe.

Aber warum schreibe ich, wenn ich schreibe, ohne einen Auftrag zu haben? Was treibt mich an? Wer oder was ist mein innerer Auftraggeber?

Warum schreibt ihr? Kurt Drawerts Frage auf einem Textwerkstattseminar an einem trüben Novemberwochenende in einem ähnlich trüben Seminarhotel. Klar, diese Frage gehört zum guten Geruch eines jeden Schreibseminars. Riecht nach Besinnungsübung. Schreibt es auf, sagte Kurt Drawert, ihr habt Zeit bis zur Kaffeepause. Und wir Textwerkstättler schrieben. Ich schrieb:

„Warum ich schreibe, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Trotzdem schreibe ich ziemlich viel, in der Summe, in der Rückschau betrachtet. Die Menge liegt möglicherweise an der Themenvielfalt, die Themenvielfalt möglicherweise daran, dass ich gar kein Thema habe. Jedenfalls kein bestimmtes lebensbegleitend existenzielles, das nach Aufarbeitung schreit. Möglicherweise steckt es ja noch zu tief im Inneren, so dass ich den Schrei nicht höre, nicht hören kann oder nicht hören will. Vielleicht komme ich also der Sache näher, wenn ich darüber nachdenke, was mich spontan zum Schreiben impulsiert.
Lust an der Sprache, Lust am Sprachwitz, an der Verfremdung, minimalinvasive Eingriffe ins Buchstabengefüge, die plötzlich einen hintergründigen Sinnkontext offenbaren. Assoziatives, Ironisches. Und immer mit mindestens doppelter, besser dreifacher Bodenlosigkeit.
Lust an der Formvorgabe, je enger, je lieber. Klassische Formen, je komplexer, je ehrgeizweckender. Ein Namensanagrammgedicht z.B. führt mich in einen zwischenbewussten Trancezustand, schaltet alle Synapsenampeln auf grün.
Lust an der Verdichtung, Minimalisierungen, Pointierungen. Kurzfassungen, das, wozu mir in der mündlichen Kommunikation zumeist die Disziplin fehlt. Oder die Disziplin zumindest kleiner ist als die narzisstische Neigung zur Selbstinszenierung. Entschuldigung, ich hatte nicht genügend Zeit, mich kurz zu fassen. Erich Kästner. Eines meiner seiner Lieblingszitate, nach diesem: Der Abend begann um halb acht. Als ich um halb elf auf die Uhr sah, war es halb neun. Ich hasse Lageweile. Außer wenn ich mit mir alleine bin.
Letztlich kommentiere ich lieber, bleibe damit außen vor. Und das ist dann doch vielleicht die Spur, die zur Innerlichkeit führt. Ich hatte nie das Gefühl, wirklich dazu zu gehören. Eine Not von frühster Kindheit an, aus der sich möglicherweise eine Tugend entwickelt hat. Die Not gibt es nur noch in meinen nicht sprachspielerischen Gedichten.
Ich schreibe nicht wg. des Prozesses, sondern für das Produkt. Und ich schreibe nicht für mich selbst. Aber möglicherweise passt diese Aussage genau an dieser Stelle nicht mehr: Ohne das Wissen, dass ein Dritter oder viele Dritte meine Texte lesen, würde ich sicher nichts schreiben. Was vielleicht auch nicht mehr stimmt. Auch nicht zur Bereicherung meiner Therapieakte. Was ganz bestimmt stimmt.
Schreiben ist die Ermöglichung eines ungleichzeitigen Dialogs. Gleichzeitig beginnt beim Schreiben mein Dialog in mir mit mir selbst. Und könnte gerade jetzt spannend werden.

Doch da kommt Kurt und es gibt Kaffee.“

Mein Kaffee im Hier und Jetzt ist kalt geworden. Und es gibt Kaffee auch nicht, ich muss mir einen machen. Das ist weiter kein Problem. Aufstehen, Kaffeetasse unterstellen, Knopf drücken.

Kaffee riecht nicht, Kaffee duftet nach frischer Erkenntnis. Draußen wird es langsam heller. Die Straßenlaternen sind ausgegangen. Und mir die Muse. Ich bin nicht mehr geneigt zu schreiben, was ich nicht muss. Die Pflicht ruft. Ich weiß noch nicht genau, was ich schreiben werde und nur ein bisschen, wie ich es anfange, aber ich weiß worüber. Und somit, was mir das Schreiben heute bedeutet.

Ich bin, also schreibe ich.
© Michael Hüttenberger – 20201215

Für was ich schreibe.

Ich schreibe, damit die Leser das vor sich haben, was ich hinter mir habe. Nie habe ich verstanden, wie man Stephen King als Nachtlektüre genießen kann. Ich mag mich nicht gruseln, das Leben ist gruselig genug. Aber wenn es denn schon Leute gibt, die sich noch vor Mitternacht voller Schauer über das grimmige Leben Texte reinziehen, warum dann nicht meine? Also schreibe ich, was mich bedrückt, was mir auf der Seele liegt. Ich schreibe es mir von der Seele und werfe es denen, die nichts zu bedrücken scheint, zu ihrer Wollust hin. Dann habe ich es hinter mir bis zum nächsten Mal.
Philipp Frankfurter

Weil ich’s nicht kann, schreibe ich

Irgendwo in einer meiner Schatztruhen liegt das amtliche Dokument meines Nichtschreibenkönnens. Mohler, setzen sechs, teilt der hauptamtliche Deutschlehrer mit. Danach ging’s bergauf zur Fünf und im Endspurt eine Vier als Gnadenbeweis. Ganz offensichtlich war das ein Akt der Befreiung für mich, denn schlimmer konnte es nicht mehr werden, dachte ich und schrieb munter ohne weitere Folgen vor mich hin.
Und es kam schlimmer. Nein, nicht wegen meiner Unentschiedenheit zwischen dem Recht und der Schreibung, sondern wegen meiner unschuldigen Annahme, linke Soziologen mögen keinen Blocksatz (das war noch vor der Zeit des Blogsatzes). Deshalb schrieb ich meinen Habilitationsvortrag mühsam mit der Hand, obwohl ich mit der Schreibmaschine und Zehnfingersystem viel flotter war. Weil aber Soziologen, die sich links dünkten, nur das äußerst mühsame Zweifingergeierhacksystem intus hatten (plus jede Menge Kraut), dachte die versammelte Fakultät, ich nähme sie mit meinem handschriftlichen Manuskript nicht ernst. Mit ernsten Folgen, denn ich musste noch mal ran.
Was lernte ich daraus? Die Leser und Zuhörer verstehen viel öfter als ich mag genau das Gegenteil von dem, was ich sagen will. Das wiederum beweist die Klugheit des hauptamtlichen Deutschlehrers. Kurz: ich kann’s nicht, deshalb schreibe ich.
Peter Mohler

Lasst uns erzählen!

Erzählt wird hier ohne Ende. In loser Reihenfolge werden Autoren und Literaten zu Wort kommen, die ihre ganz eigene Vorstellung davon haben, was Schreiben heute bedeutet, leisten kann, sein muss und, ja, sein darf.

Marcel  Reich-Ranicki sagte mal im  „Literarischen Quartett“, Autoren müssten nicht zwangsläufig über große gesellschaftliche Ereignisse schreiben (es ging um „Ein weites Feld“ von Günter Grass, Thema ist unter anderem die Wiedervereinigung). Sie sollten aber dringlich über ihre Erlebnisse schreiben, das, was sie im Innersten bewege. Alleine durch diese Schilderungen tröpfeln stückchenweise auch wesentliche Informationen über die jeweilige Epoche  durch. Wenn das klappt, ist ein Text gelungen.

Genau darum geht es hier. Auf tausend verschiedene Arten, subtil und knackig-kurz in einer Kurzgeschichte, ausformuliert, gar episch und durch die Brille vieler Akteure in einem Roman, nur angedeutet, symbolisch, geheimnisvoll, oder mit der ganz besonderen Sprache der Lyrik. Alles mit der Absicht, dem Leser etwas zu erzählen. Es gibt nämlich so etwas wie eine Übereinkunft zwischen Leser und Autor, die am Beginn eines Buches steht, und das ist der Vertrauensvorschuss des Lesers, sich nun auf das einzulassen, was der Autor erzählen will.

Enttäuschen wir die Leser also nicht. Beginnen wir zu erzählen.

David Emling

Das Gerstenmeier-Paradox

Als ich jung war, also in der Mitte des letzten Jahrhunderts, da gab es den „Religions-Gap“, so wie es heute den Gender Gap gibt. Ehen zwischen katholischen und evangelischen Menschen galten als „Mischehen“. Unglaublich, aber das Gesangsbuch entschied lange Zeit über Karrieren in der Bundesrepublik. Eugen Gerstenmaier hatte das Pech, ein prominenter Evangelischer in der CDU zu sein, dort wo katholisch sein der Schlüssel zum Erfolg war. Da nützte ihm nicht, im Kreisauer Kreis aktiv und von Roland Freisler und Co. deswegen verurteilt worden zu sein. Vielleicht wäre er besser, wie Globke, katholisch und Nazi gewesen, aber das ist rein hypothetisch.
Na und, alles Schnee von gestern? Nein, es gibt Neuschnee. Anstelle des Gesangbuches ist Gender getreten (war schon bei Gerstenmeier da, nur hat die Minderheit der Männer das damals erfolgreich untergebuttert). Also heute ist Gender offensichtlich so wichtig. wie früher das Gesangbuch. Der Gender-Gap dominiert, wo Können und Leistung gefragt sind. Warum wohl? Weil immer noch und viel zu oft könnende und leistende Frauen besser vorankämen, wenn sie als engstirnige Männer geboren wären.
Was lernen wir daraus? Es gibt Hoffnung, dass eines nicht allzu fernen Tages keine und keiner und keines mehr sich um Gender kümmert, wenn es um Können und Leistung geht.
Spannend wäre zu erfahren, welcher Gap-Gag uns dann eingefallen sein wird.
Peter Mohler

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