Wilder Südwesten

Autor: David Emling (Seite 1 von 2)

Wunschkonzert

Für alle, die wie ich 90er-Jahre Slapstick-Komödien lieben, ist dieser Anfang bekannt:
„Ich möchte eine Welt, in der…“ Dann folgen solche genialen Einlassungen wie: „…in der Würmer und Insekten endlich wieder schmecken“, oder auch „…in der ich aus einer Toilette trinken kann ohne Ausschlag zu kriegen.“

Wissen Sie, was ich möchte? Eine Debatten-Welt in Deutschland, die endlich mal aus einem beinahe schon naturgesetzartigen Reiz-Reaktions-Schema ausbricht. Da redet der Bundesfinanzminister über Zuwanderung, Armut und vielem mehr, alles Themen, die man ansprechen sollte und darf, wenn man wie er viel Geld zu verteilen hat (und meint, noch mehr einsparen zu müssen) und in einem Land mit freier Meinungsäußerung lebt. Dann kommt die von irgendeinem Adjutanten (vielleicht im dritten oder vierten Semester Jura oder Philosophie oder was) des Ministers lange im Vorfeld geplante rhetorische Spitze, dass es einen klaren statistischen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kinderarmut gebe. Man muss ja in die Presse kommen mit markigen Worten und klaren Ansagen.

Was folgt, ist besagtes Reiz-Reaktions-Schema. Allen voran Politiker*innen (wichtig!) der Linken sehen das als „böse“, „ekelhaft“ und so weiter an (die können sich vermutlich nur Erstsemester leisten). Auch Grüne und SPD sind da meist dabei, die üblichen Verbände, die sonst kaum jemand kennt, kommen nun aus den Löchern gekrochen, äußern ihre „Expertise“, und am Ende prügeln alle aufeinander ein. Schließlich wird sicher auch da am Ende irgendein Kompromiss stehen (auch mit Frau Paus), der dann für alle Seiten neu wild interpretierbar ist für die nächste (verbale) Attacke. Ach so, und die AfD äußert sich wie immer gar nicht, lacht sich eins und freut sich über neue beste Umfragewerte.

Ich möchte eine Welt, in der alle mal einen Tag durchatmen und überlegen, warum diese Probleme so alt sind und was man dagegen tun kann. In der sich alle Demokraten zusammensetzen und ernsthaft nach einer Lösung suchen, und erst dann an die Presse gehen. Sich mit Respekt behandeln, nicht belauern, offen sind und dann vielleicht tatsächlich was erreichen. Dann lacht keine AfD mehr, und mehr Menschen kommen vielleicht sogar aus der Armut raus.

Ich weiß, wahrscheinlicher ist es, dass ich mir ein Glas aus der Toilette genehmige und keine Scheißerei bekomme, aber hoffen und wünschen darf man noch, oder?!

Die Sache mit den Feinden

Kennen Sie Gaito Gasdanow? Ein Schriftsteller, der Anfang des 20. Jahrhunderts geboren wurde und Anfang der 70er Jahre starb?

Ich frage deshalb, weil heut niemand einfach seine Kurzgeschichten vorurteilsfrei lesen, ihm selbst vorurteilsfrei begegnen, sondern man ihn heute unweigerlich fragen würde: Wie stehst du zu Putin?!

Er kannte ihn zwar nicht, konnte ihn gar nicht kennen, das spielt aber keine Rolle, denn es spielt offensichtlich bei vielen Wissenschaftlerinnen und Künstlern heute auch keine Rolle. Ich rede nicht von den Putin-Fans in Ballett und klassischer Musik, wie es sie zu Hauf gibt. Eher von der Wissenschaftlerin in Moskau, die seit 30 Jahren Daten sammelt, um die russische Gesellschaft besser zu verstehen (Fragen Sie mal Peter Mohler). Ich rede von den Musikern und Literaten, die in lokalen Kulturinstitutionen hier in der Rhein-Neckar-Region seit vielen Jahren deutsch-russische Austauschprogramme organisieren und für Dialog stehen. Und so weiter und so fort.

Ich packe jetzt nicht den Luhmann aus, aber all das scheint momentan nicht beliebt zu sein, dampft doch leider vieles der momentanen Diskussion herunter auf den binären Code: Wie halten Sie es mit Putin? Gegner oder Verehrer? Freund oder Feind?

Die, die im Krieg sind, die kämpfen, dürfen, müssen das. Aber wir, die noch ein wenig weiter weg sind, unterstützen, aber selbst nicht kämpfen (müssen)? Können wir uns keine Differenzierung leisten?

Wir sollten es uns gut überlegen, bevor wir Kultur und Dialog völlig über Bord werfen. Wir können ja zeitgleich trotzdem unsere Armee mal auf einen modernen Stand bringen…

Schöne übersichtliche Welt

Ich muss mich beeilen. Meine große Tochter kommt bald von Oma und Opa nach Hause, die Kleine mit ihren sechs Wochen wacht sicher bald auf. So ist das nun einmal als Eltern, und dennoch hab ich etwas Zeit, weil ja die Familie da ist und uns hilft. Man könnte auch sagen: Ist alles einfacher aufm Dorf.
Und schon sind wir mittendrin in einem Thema, das dann doch kurz meine Stellungnahme  Herausfordert. Es geht um den Artikel „Die Verdorfung der Literatur“ der FAZ am Sonntag dem 5. September. Ich bin Autor, wohne auf dem Dorf, also schauen wir mal…
„Verdorfung“ klingt ja schon sehr negativ, und die Autorin will das auch bezwecken, und zwar in einer gelungenen Art. Die „neuen Dorfromane“ nerven sie, und zwar die kleinen wie auch die großen Bestseller von Juli Zeh bis Judith Herrmann. Warum? Weil der Rückzug aufs Dorf fast immer romantisiert und damit radikal vereinfacht wird. Der die gestressten Städter, der die mal aufs Dorf muss, um Ruhe zu finden Dort allerlei schrullige Typen trifft treffen, die die Einfachheit der Provinz verkörpern. So weit, so grobschlächtig, aber eben deshalb auch ein Garant, um viele Bücher zu verkaufen, weil man damit halt ein Nerv bei den Leuten anspricht. Dann wird das in der Regel noch garniert mit einer radikalen Sinnsuche der Protagonistin, die meisten Geschichten spielen im Osten Deutschlands, hat man also ein bissl was zusätzlich für die Repräsentation der ach so armen „Abgehängten“ im Osten getan und versucht obendrauf, die zu verstehen.
Besonders perfide ist das, weil es eine Sichtweise auf die Welt reproduziert, die falscher nicht sein könnte, nämlich „das Dorf“ als einer übersichtlichen Aneinanderreihung ebenso übersichtlicher Lebensentwürfe und –läufe zu sehen. Dem muss man vehement widersprechen, was leider die FAZ-Autorin nur so halb oder, wie man bei uns auf dem Dorf sagt, „viertels“ tut. Diese demonstrative Darstellung einer schlichten Übersichtlichkeit zeigt, dass die Autorinnen solche Bücher nicht ernsthaft bereit sind, tatsächlich auf die Weltsicht „der Dorfgemeinschaft“ einzugehen, also eine Art Ethnographie des Dorfes zu betreiben, sondern in ihrer wunderbar großstädtischen und coolen Distanz hängen bleiben – und so nichts vom Dorf sehen noch verstehen. Deshalb sind solche Bücher auch so langweilig. es Denn es kann gar nicht gelingen, im vermeintlich Kleinen des Dorfes die großen Fragen zu sehen, die letztlich jeden Menschen beschäftigen. Mit Richard Russo kann man sagen: „There is so such thing as a small live“. Die Protagonistinnen der Beststellerlisten sollten es beherzigen.
David Emling

 

Von Flickenteppichen und Jo-Jo-Effekten

Ich sage das, was alle sagen: Es ist schon ein Leid mit den Corona-Beschlüssen. Über Stufenpläne, die schon seit einem Jahr vorliegen könnten, wird neun Stunden debattiert. Die Kanzlerin sagt, man müsse wohl allmählich über langfristige Strategien im Schulbereich nachdenken (was sonst?!), und ach Gott: die Schnelltests dauern natürlich noch schnelle vier Wochen. Darum aber geht’s mir gar nicht, sondern: Im Zuge der Generalkritik von allen an allem finden sich auch immer die gleichen Begriffe, die ich mir ein weniger genauer anschauen will. Besonders prominent vertreten sind der „Flickenteppich“ und der „Jo-Jo-Effekt“.
Zum Ersten: Ein Flickenteppich ist wohl ein Teppich, der aus vielen kleinen Stücken zusammengeflickt ist. Das ist erst einmal nicht schlimm, denn alte Einzelstücke von Restteppichen zu verwerten ist doch voll nachhaltig, oder? Dennoch beschwert sich jeder und vor allem, warnt mit erhobenem Zeigefinger vor einem „Flickenteppich“ aus unterschiedlichen Verordnungen quer durch die Bundesrepublik. Und das wird dann garniert mit dem dringenden Appell an alle, doch bitte einheitliche Lösungen zu suchen. Das klingt doch klasse, wer will da widersprechen?!
Zum Zweiten: Der Jo-Jo-Effekt ist ein Begriff, den ich selber ganz gut kenne. Denn wer wie ich einen – wie wir Pfälzer sagen – stattlichen Ranzen durch die Gegend trägt, hat ihn sicherlich schon erlebt, den Jo-Jo-Effekt, also dass das Gewonnene (also hier: weniger Gewicht) wieder verschwindet und es sogar noch schlimmer wird (man wiegt mehr als vorher; bei mir: acht Wochen USA-Urlaub, schon war’s geschehen…).
Nun stört mich an dieser Redeweise folgendes: Wäre ein Jo-Jo-Effekt, würde er tatsächlich eintreten, denn so schlimm? Genau wie beim Gewicht hieße das doch immerhin, dass die Lage mal vorher deutlich besser gewesen war. Oder soll ich lieber dauerhaft meinen Ranzen behalten anstatt wenigstens zu versuchen, ihn etwas zu verkleinern, auch wenn immer die Gefahr besteht, dass er zurückkommt? Übersetzt hieße das: Hätten wir zwischendurch wenigstens versucht, Schulen und Kitas und anderes zu öffnen (stufenweise, regional unterschiedlich), hätten viele Kinder wieder ein Stück Alltag gehabt. Und es wäre ihnen besser ergangen, Spanien und Italien haben es vorgemacht, aber bitte: von anderen lernen, das geht zu weit. Der Flickenteppich derweil wird deshalb ins Feld geführt, weil es impliziert, es gäbe nahezu überall unterschiedliche Regeln. Das ist richtig, und die Frage ist auch hier: Ist das so schlimm? Oder ist es nicht mehr als angebracht, in unterschiedlichen Regionen (oder Landkreisen z.B.) je nach Ausbreitung des Virus unterschiedliche Maßnahmen zu ergreifen? Kann ich dem Kollegen aus Pirmasens guten Gewissens den Cafébesuch abschlagen, weil wir in Germersheim gerade durch die Decke gehen?
Hier kommen typische deutsche Angewohnheiten zusammen: Die Angst vor allzu schneller Veränderung  führt zu übervorsichtigen Minischritten, die aber in einer Pandemiesituation nix bringen. Und dazu kommt die Sehnsucht nach Einheit, nach bundesweit „klaren“ Regeln, was auch immer die heißen mögen (warum nicht weltweit?). Da muss ich doch den flammenden Föderalisten heraushängen und sagen: Nix da, ich bin froh, dass in Rheinland-Pfalz Regeln gelten, die eine Landesregierung aufstellt, die zumindest in etwa weiß, wie es bei uns aussieht. Merkel et al. wissen das sicher nicht. Aber so ein Schwenk ins Autoritäre hat natürlich was: Man kann die Augen zumachen und hoffen, alles werde gut. Statt hoffen könnte ich auch sagen „glauben“. Wie beim lieben Herrgott, friss hier auf Erden genug Dreck und sei ruhig, im Paradies wirst du dafür belohnt.
Wir leben aber hier und jetzt – das sollte auch ganz schön sein, oder?! 
David Emling

Wie weit kann es gehen oder muss oder soll? Das Manifest der 185*: Reden wir darüber, damit wir nicht mehr darüber reden müssen.

Mit Überschriften ist es so ein Kampf. Nicht selten, dass der Text fertig ist aber die Überschrift fehlt. Sie soll das Kommende ankündigen und dafür interessieren, aber nichts vorwegnehmen. Und dann auch noch gut klingen. Gar nicht einfach. Hier stimmt wenigstens die Andeutung „können, müssen und sollen“, drei Begriffe, die verschiedene Ebenen symbolisieren, jedoch im „Manifest der 185“ und der folgenden Debatte vermischt werden. Und nicht unbedingt zum Positiven.

Erstens: Was will der Aufruf bezwecken? Wachrütteln, aufmerksam und sensibel machen für ein wichtiges Thema. Gut, absolut in Ordnung, es ist wichtig, die Mechanismen und Missbräuche aufzudecken und dazu die Leerstellen, die niemand im Blick hat. Zumindest in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in den Debatten der Zeitungen, Feuilletons und Blogs (wie hier) haben wir das schon lange. Von den sogenannten „sozialen Medien“ ganz zu schweigen, die Skandale nun einmal überall „sehen“ wollen oder müssen. In anderer Hinsicht aber wird es problematisch: Wie einige gute Rechercheure festgestellt haben, fehlt bei dem Aufruf die Alterskohorte der Männer von 30-50 Jahren. Ulrich Matthes et.al sind dabei, gut so, aber für die ist das Risiko, bei aller Liebe, gering. Was heißt das? Ist der Aufruf selbst oberflächlich, weil ein wesentlicher Teil der Betroffenen nicht dabei ist, sich vielleicht nicht traut? Oder ist er ein gewichtiger Beweis, wie wichtig und notwendig das Nach-Außen-Treten ist, eben weil sich nach wie vor viele nicht trauen, sich zu outen?
Zweitens: Was impliziert der Aufruf? Die Bitte, prominent vorgetragen von Ulrike Folkerts, dass doch bitte jeder alles spielen können muss oder soll. Da sage ich voller Inbrunst: Gut so! Genau! Die Stoßrichtung ist klar: Ich bin eine lesbische Frau, darf, soll und muss aber eine in Trauer versinkende heterosexuelle Mutter spielen dürfen, die ihre tote Tochter vermisst und ihren Mann verflucht. Dann fragen wir weiter: Warum verzichtete Scarlett Johansson vor zwei Jahren auf die Rolle des Transmannes Dante Gill im Film „Rub & Tug“? Weil wieder einmal die berühmten „sozialen Medien“ angeführt von einigen apokalyptischen Reiter*innen ihr vorwarfen, sie würde Transgender jeglicher Art nicht „repräsentieren“ können, da sie eben eine heterosexuelle Frau sei. Oder Julianne Moore, die neulich kritisch hinterfragte, ob sie die Rolle in „The kids are alright“ gut spielen konnte, da sie eben keine lesbische Frau sei (Spoiler: ja!, konnte sie!). Wer hier einen krassen Widerspruch sieht, der hat Recht. Punkt.
Drittens: Hier könnten wir aufhören und sagen: Was für die einen gilt, sollte auch für die anderen gelten. Oder?! Nun ja, jetzt wird’s kompliziert, denn der eigentümliche Begriff der Repräsentation kommt ins Spiel. Nein, es ist halt nicht das exakt Gleiche, denn Heterosexuelle sind zweifellos anders repräsentiert im Film- und Kunstgewerbe als LGBT. Daraus folgt: Ungleiches auch ungleich behandeln, genau hinschauen, ermutigen und fördern, wo es nur geht. Was nur so elend nervig und bescheuert bleibt, ist die Forderung gegenüber Scarlett Johansson, auf die Rolle zu verzichten, eben weil sie kein Transgender ist. Denn dann rückten wir genau das Merkmal in den Vordergrund, das doch alle Aufrufe und Initiativen dieser Welt im Hintergrund sehen wollen: die sexuelle Identität, und dass sie als Grund herhalten muss, jemandem eine Rolle, einen Job oder was auch immer zu verweigern. Nicht versteckt soll sie werden, aber einfach nicht mehr relevant für Entscheidungen sein.
Was sehen wir? Es vermischt sich ein gesellschaftlich-moralischer Diskurs mit einem künstlerischen. Wir wollen alle offen sein, jeden nach seiner Façon leben lassen, und dafür lohnt es sich, genau hinzuschauen. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Die Kunst aber hat vor allem die Aufgabe, dies zu reflektieren. Sie soll selbst hinterfragen, nicht in dem anderen aufgehen. Moral war schon immer so eine Sache – und die Kunst war oft genug da, ihr die hässliche Maske zu entreißen. Verzichten wir nicht darauf, indem wir über Themen sprechen, die im Jahr 2021 nicht mehr der Rede wert sein sollten.

David Emling
* Wir sind schon da. In: Zeit Magazin, 5/21, 4. Februar 2021

Von der Furcht im Herzen Rezension zu Andrea Petković: „Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht“*

Es gibt viele Gründe, warum man ein Buch mögen kann. Es ist spannend, unterhält, hat eine tolle Geschichte, regt zum Nachdenken an, ist sprachlich ein Genuss. Es hängt auch viel davon ab, welche Art Leser man ist. Mir scheint darüber hinaus, dass man eines sehr allgemein sagen kann: Ein gutes Buch erzählt zwar „nur“ eine Geschichte, diese weist aber über sich hinaus, thematisiert also nicht nur das, was wir lesen können, sondern immer noch mehr. Dieser Geltungsüberschuss macht ein Buch wichtig, weil es den Inhalt von der Zeitlichkeit (von Autor und/oder lyrischem Ich) ablöst und somit in gewisser Hinsicht zeit-los macht. Es gibt viele Passagen, in denen Andrea Petković das gelingt. Die besten aber finden sich vor allem am Anfang, wenn sie nämlich von ihrer Kindheit erzählt. Dort wird ihre Herkunft zum Schnitt- und Achsenpunkt sowohl ihres sportlichen Eifers und Erfolgs, und gleichzeitig wächst ihre Liebe zu Literatur als Ventil sportlicher Enttäuschungen und zutiefst menschlicher Gefühle.
Zum Beispiel ging ihr Vater zuerst alleine nach Deutschland wollte Geld verdienen, um bald wiederzukommen. Jedoch spitzten sich die politischen Konflikte damals in Jugoslawien immer mehr zu, sodass die ganze Familie 1988 nach Deutschland floh. Sein Tennistrainer-Intermezzo 1986 in Deutschland war der Grund, dass die Familie Petković eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung  erhielt. Andernfalls hätten sie als Asylsuchende gegolten. Hier wird klar, wie aktuell die Geschichte der Familie ist, und wie zufällig eine Lebensgeschichte sein kann. Vermutlich wäre Andrea als Flüchtlingskind keine große Tennisspielerin geworden – denn ihr Vater hätte in diesem Fall nicht als Tennistrainer arbeiten können. Das gilt für damals wie heute. Vor diesem Hintergrund bekommt Petkovićs Satz eine ganz besondere, zeit-lose Bedeutung: „»Unbefristete Aufenthaltsgenehmigung« und »Arbeitserlaubnis« waren vielleicht nicht die ersten deutschen Wörter, die ich als kleines Kind aussprechen konnte, aber es waren sicherlich die ersten deutschen Wörter, die ich klar als solche erkennen konnte.“
Noch unmittelbarer erfährt man etwas über die junge Andrea, wenn sie beschreibt, wie sie als Kind eingewanderter Eltern sich mit diesem Malus, der natürlich nie einer sein darf, mit und durch Tennis zu befreien  suchte. Wie dies oft, sehr oft gelang, manchmal aber auch nicht, und was das mit dem auf dem Platz vor Zorn schreienden Teenager machte. Und wie diese Versuche des Hineinanpassens und Dazugehörenwollens immer wieder zu Situationen führten, die ihr unangenehm und zutiefst fremd waren. Besonders augenscheinlich – ich würde sagen geradezu die Essenz des Buches – ist die Passage, wie sie mit ihren Freundinnen aus gutem einheimischem Hause schwarz in der Straßenbahn fuhr: Sie werden eines Tages erwischt, müssen 40 Euro Strafe bezahlen, was Andrea mit Tränen in den Augen und voller Scham und Wut hinnimmt, ihre Freundinnen hingegen nahezu unberührt lässt. Wie sie über Wochen die 40 Euro zusammenspart, vor allem aber zuhause immer die erste am Briefkasten ist, um den Brief mit der Strafzahlung vor ihren Eltern abzufangen. Wie sie es schließlich schafft und ihre Freundinnen später fragt, wie sie es angestellt hätten, die 40 Euro zusammenzubekommen. Und wie diese Andrea völlig ungläubig anschauen und in nüchternem Ton feststellen, dass ihre Eltern es eben bezahlt hätten.
Besonders gelungen ist diese Stelle deshalb, weil Andrea Petković sie mit großen Werken der Literaturgeschichte geschickt verknüpft, in diesem Fall mit Philip Roths „Goodbye Columbus“, in dem es viel um Tennis auf und neben dem Platz geht. „Cocksureness“, bei Roth auf männliche Selbstüberschätzung bezogen, sieht die junge Andrea auch in und an ihren Freundinnen. Die Mischung aus persönlichen Erfahrungen, ganz gleich ob Sieg, Niederlage, Schmerz oder Freude, und die Verbindung dieser Emotion mit Literatur und einem scharfen Blick aufs gesellschaftliche Ganze. Das ist es, was Petkovićs auszeichnet. Ihre Geschichte zu lesen und sich selbst darin zu spiegeln macht großen Spaß und bringt einen innerlich weiter.
Günter Grass, der Mann mit K, argwöhnte, Rezensenten besprächen eher seine Person als seine Werke. Das gehört zum Handwerk. In dieser Hinsicht gefällt mir ihr Buch erst recht. Man spürt Andrea Petković durchgehend im Text, sie ist omnipräsent, weil sie ihr Erlebtes so wunderbar erzählen und darstellen kann. Man ist dabei – auf dem Platz, im Warteraum bei einem wichtigen FED-Cup-Spiel ihrer Freundin Angelique Kerber, stapfend auf den staubigen Straßen Sofias zum Tennisclub neben der noch jungen Andrea, die erst anfängt zu spielen, aber schon so weit weg von allem ist, was sie „zuhause“ nennt. Ja, und überhaupt ist sie schlicht sympathisch. Vor allem aber: Sie setzt sich für Literatur ein. Einen Buchclub zu gründen mutet ja schon irgendwie altbacken an, erinnert einen an amerikanische Serien der 80er und 90er, wo ältere Damen wie die „Golden Girls“ ihre Mittwochabende verbringen. Wie aktuell und cool so etwas aber sein kann, vor allem aber wichtig für die Literatur selbst, zeigt Andrea Petković nahezu täglich, wenn sie postet, welche Bücher gelesen werden. Und noch etwas macht sie so nahbar: dass trotz aller Erfolge ein sehr nachdenklicher Mensch vor uns steht, der seinen Platz im Leben sucht und damit nie aufhören wird, ganz gleich, ob er für eine kurze Weile gefunden wird. 

David Emling
* Andrea Petković „Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht“, Kiepenheuer & Witsch, 2020, ISBN: 978-3-462-05405-7
Andrea Petkovićs Buchclub gibt’s auf Instagram: https://www.instagram.com/racquetbookclub/Petković

Spurenhalter

So fahre ich gestern Abend mit dem neuen Auto meiner Frau durch die Gegend und probiere aus, was das Teil so kann. Lasse das Lenkrad los und schaue, was passiert. Tatsächlich, der Spurenassistent hilft, es blinkt und piepst, und das Lenkrad führt mich zurück in die Mitte der Straße.
Es ist gut, wenn man solche Hilfsmittel hat. Sein ganzes Wohl und Wehe danach auszurichten, kurz, sich komplett darauf zu verlassen, kann manchmal auch daneben gehen. Herr Söder, das geht an Sie.
Beispiel: Ich fahre mit dem Auto ein Dorf hinaus Richtung Landstraße. Die Hauptstraße ist langgezogen, und keine Sau hält sich an dieser Stelle an die erlaubten 50 km/h. Deshalb hat die Gemeinde vor einiger Zeit mobile Inseln aufgestellt, die dazu führen, dass man entweder anhalten muss, um den Gegenverkehr durchzulassen, oder zumindest Kurven fahren muss. Die 50 km/h werden so gut gehalten. Und jetzt kommt das Problem: Der Spurenassistent des Autos kapiert das nicht. Warum auch, woher soll die Maschine wissen, dass hier der Gemeinde eingefallen ist, mobile Inseln aufzustellen?! Er blinkt, piepst vor sich hin, ich korrigiere. Alles gut, halb so wild, aber man muss wachsam bleiben.
Was, wenn der Spurenassistent bei den Söders dieser Welt auch ständig blinkt, sie aber nicht kapieren, dass hier gerade viele neue Hürden stehen? Sich nur auf den Assistenten zu verlassen heißt: Rums, Crash, fertig. Also: Flexibel und vorausschauend die Situation im Blick haben, vorher schon überlegen, welche Entscheidungen bei den Leuten was auslöst. Wenn man aber nur einen Sound drauf hat, schon Verschärfungen eines Lockdowns fordert, bevor der bereits verschärfte überhaupt eingetreten ist, dann ist das das genaue Gegenteil davon.

Es ist die Hilflosigkeit des Fahrers, der sich nur auf seine Technik verlässt. Ziemlich fahruntauglich würde ich sagen…was in dieser Analogie natürlich heißt – kanzleruntauglich…

David Emling

Recht oder Gerechtigkeit?!

Als Philosoph müsste ich Ferdinand von Schirach beinahe dankbar sein, dass er moralische Zwickmühlen auf die Tagesordnung der deutschen Pseudo-Kulturguts-Verwaltung, also des Fernsehens, setzt. Aber eben nur beinahe, denn „die Botschaft hör‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Warum? Weil das jüngste Werk „Feinde“ in seiner Verengung kaum auszuhalten ist. Die Garnierung des Films bzw. der Filme mit Talkshows etc. tut natürlich sein Übriges.
Was meine ich? Zunächst den kruden binären Code, den dessen Erfinder Niklas Luhmann in der Schirach’schen Einfachheit verabscheut hätte. Was soll ein Gegensatz von Recht oder Gerechtigkeit zur Erkenntnis beitragen? Die Verengung wurde in den Zeitungen der vergangenen Woche fleißig kolportiert. Sicher ein Werbeeffekt, dem der Autor ja aber auch hätte widersprechen können. Hat er aber nicht, und so muss ich davon ausgehen, dass er genau auf diesen Gegensatz (der eben mitnichten einer ist) anspielt. Und es bietet sich ja für eine reißerische Story auch an: Eine Entführung (natürlich ein unschuldiges Mädchen), ein Bösewicht, ein guter Cop, etwas überfordert und selbst mit gleichaltriger Tochter, der Tod des Mädchens, dann die Verhandlung mit schmierigen Anwälten; die eben, und das ist die Botschaft, nur das „Recht“ verteidigen, nicht aber auf der Suche nach „der Gerechtigkeit“ sind. Oder, um dem Titel Rechnung zu tragen: sowohl Anwalt und Polizist sind Feinde, aber eben auch Recht und Gerechtigkeit?! Puh, einmal durchatmen.
Glücklicherweise gibt es in der Philosophiegeschichte allerlei Autoren, die sich mit ähnlichen Gedankenexperimenten ähnliche Fragen gestellt haben, so z.B. Thomas Nagel, der überlegt, ob ein verzweifelter Mann, der seine verletzten Freunde retten will, einem kleinen Jungen Gewalt androhen und ggf. antun darf, um dessen verängstigte Großmutter zur Hilfe zu bewegen. Es gibt davon noch reichlich, und deutlicher versierter, komplexer und länger beschrieben und vor allem diskutiert. Aber das wäre ja Arbeit, sich da hineinzulesen. Noch schlimmer aber, und das, liebe Leser, ist die kleine Botschaft hier: Solche Fragen sind einfach sauschwer zu beantworten. Eben weil es ethische Fragen sind.
Zudem: Moralphilosophische Argumentationen sind teils sehr konkret in die deutsche Rechtsprechung eingegangen, z.B. im Anschluss an 9/11. In Deutschland ist es nämlich verboten, ein Flugzeug allein deshalb abzuschießen, weil eventuell Terroristen es gekapert haben. Warum? Weil alle Insassen einzig als Mittel zum Zweck missbraucht würden – im Grunde genau die Argumentation eines gewissen Immanuel Kant. Ist das nun Recht, oder Gerechtigkeit, richtig oder falsch? Auch das ist schwer zu beantworten, nur eines ist klar: Eine moralphilosophische Haltung ist eindeutig ins deutsche Recht eingegangen.
Ferdinand von Schirach selbst sagte neulich, dass er anders als die meisten Zuschauer abstimmen würde (das ist ja so ein Gimmick seiner Stücke, diese Abstimmung anschließend) und eindeutig das Recht bevorzugt. Die Botschaft dieser Aussage ist: Ich gebe nicht meinen Instinkten nach und halte mich an das Recht. Moralischer Instinkt hier, Recht dort – wieder die Dichotomie, die es nicht gibt. Umso trauriger ist es, dass er damit dem Recht einen Bärendienst erweist, indem er es vermeintlich ethisch „richtigen“ oder zumindest „verständlichen“ Handlungen gegenüberstellt – und es damit massiv diskreditiert, statt es zu verteidigen. Den komplexen Zusammenhang zu beschreiben ist aber natürlich schwere und Arbeit, die sich leider so gar nicht mit billiger Effekthascherei und Talkshows am Sonntag Abend verträgt.  
David Emling

Lasst uns erzählen!

Erzählt wird hier ohne Ende. In loser Reihenfolge werden Autoren und Literaten zu Wort kommen, die ihre ganz eigene Vorstellung davon haben, was Schreiben heute bedeutet, leisten kann, sein muss und, ja, sein darf.

Marcel  Reich-Ranicki sagte mal im  „Literarischen Quartett“, Autoren müssten nicht zwangsläufig über große gesellschaftliche Ereignisse schreiben (es ging um „Ein weites Feld“ von Günter Grass, Thema ist unter anderem die Wiedervereinigung). Sie sollten aber dringlich über ihre Erlebnisse schreiben, das, was sie im Innersten bewege. Alleine durch diese Schilderungen tröpfeln stückchenweise auch wesentliche Informationen über die jeweilige Epoche  durch. Wenn das klappt, ist ein Text gelungen.

Genau darum geht es hier. Auf tausend verschiedene Arten, subtil und knackig-kurz in einer Kurzgeschichte, ausformuliert, gar episch und durch die Brille vieler Akteure in einem Roman, nur angedeutet, symbolisch, geheimnisvoll, oder mit der ganz besonderen Sprache der Lyrik. Alles mit der Absicht, dem Leser etwas zu erzählen. Es gibt nämlich so etwas wie eine Übereinkunft zwischen Leser und Autor, die am Beginn eines Buches steht, und das ist der Vertrauensvorschuss des Lesers, sich nun auf das einzulassen, was der Autor erzählen will.

Enttäuschen wir die Leser also nicht. Beginnen wir zu erzählen.

David Emling

No identity, stupid!

Es ist zu einfach, um wahr zu sein: Über 73 Millionen Wähler gaben Joe Biden ihre Stimme, so viele wie noch nie in der Geschichte der USA. Ein deutlicher Sieg sowohl in den absoluten Stimmen als auch bei den Wahlleuten, wohl über 300 (vielleicht sogar 306, genau jene Zahl von Trumps „Triumph“ vor vier Jahren; wäre keine schlechte Ironie). Die Demokratie hat zurück geschlagen, sich gewehrt gegen Populismus oder „Trumpismus“ (gibt es davon eine Definition, und wenn ja, wie viele?!) Dazu kommt, dass linke „Identitätspolitiker*innen“ (auch hier, Definition…?!) wie Alexandria Ocasio-Cortez, Rashida Tlaib oder Ayanna Pressley ihre Sitze im Repräsentantenhaus verteidigt haben. Alles gut, wir sehen, die linke Wahrheit ist endlich auf dem Durchmarsch, sogar in den USA.

Wären da nur nicht die paar Stimmen für Donald Trump. Mindestens 69 Millionen, wahrscheinlich mehr. Joe Biden also ist der Präsident, der die meisten Stimmen jemals bekam. Kurz dahinter liegt Donald Trump nach einer, sagen wir, sehr turbulenten Amtszeit. Es gibt sie also, die Trump-Fans, mehr denn je. Vor allem aber gibt es noch etwas: Junge Menschen, Schwarze, Latinos und Frauen, die ihn gewählt haben, und zwar auch ohne seine Fans zu sein,  einfach, weil die demokratische Alternative nichts für sie war. Mist, schon ist die schöne Erzählung gesprengt, und mit ihr die sogenannten Lehren, die wir aus dieser Wahl ziehen können. Ich bin sicher, die Erklärungen dafür lagen schon lange in den Schubladen der Parteizentralen über den Globus verteilt, zum Teil wurden sie auch  in einem euphorischen „die Demokratie schlägt zurück“ Ton veröffentlicht. Nur – diese Erklärungen  passen eben nicht. Die USA sind, bleiben (und vor allem: waren schon immer) ein gespaltenes Land. Fliegen Sie mal, wie ich es mal getan habe, vom kalten New York ins warme San Diego – Eis und Schnee allenthalben, nach sechs Stunden Flug (sechs!) ist man noch immer im gleichen Land, aber mit Palmen und Sonne erwartet einen ein anderes Leben (von der Pampa in Wyoming oder der Natur Alaskas ganz zu schweigen). Das ist wahrlich nicht einfach zusammenzubringen, vielleicht auch gar nicht möglich.

Was also tun? Vielleicht, ausnahmsweise, gar nichts. Froh sein, wie die meisten, dass es dieses Mal ein pragmatischer und erfahrener Politiker (und tatsächlich Politiker, nicht Entertainer) geschafft hat, Präsident zu werden. Hoffen, dass er einige gute Projekte durchbekommt. Aber nicht meinen, dass nun auch der letzte Amische in Pennsylvania verstanden hat, dass die moderne Identitätspolitik, angeführt von demokratischen Sozialist*innen, endgültig gesiegt habe. Es könnte in vier Jahren ein böses Erwachen geben, mit einem dann 78-jährigen Präsidenten. Republikaner. Sie wissen schon, wen ich meine…

David Emling

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