Es gibt viele Gründe, warum man ein Buch mögen kann. Es ist spannend, unterhält, hat eine tolle Geschichte, regt zum Nachdenken an, ist sprachlich ein Genuss. Es hängt auch viel davon ab, welche Art Leser man ist. Mir scheint darüber hinaus, dass man eines sehr allgemein sagen kann: Ein gutes Buch erzählt zwar „nur“ eine Geschichte, diese weist aber über sich hinaus, thematisiert also nicht nur das, was wir lesen können, sondern immer noch mehr. Dieser Geltungsüberschuss macht ein Buch wichtig, weil es den Inhalt von der Zeitlichkeit (von Autor und/oder lyrischem Ich) ablöst und somit in gewisser Hinsicht zeit-los macht. Es gibt viele Passagen, in denen Andrea Petković das gelingt. Die besten aber finden sich vor allem am Anfang, wenn sie nämlich von ihrer Kindheit erzählt. Dort wird ihre Herkunft zum Schnitt- und Achsenpunkt sowohl ihres sportlichen Eifers und Erfolgs, und gleichzeitig wächst ihre Liebe zu Literatur als Ventil sportlicher Enttäuschungen und zutiefst menschlicher Gefühle.
Zum Beispiel ging ihr Vater zuerst alleine nach Deutschland wollte Geld verdienen, um bald wiederzukommen. Jedoch spitzten sich die politischen Konflikte damals in Jugoslawien immer mehr zu, sodass die ganze Familie 1988 nach Deutschland floh. Sein Tennistrainer-Intermezzo 1986 in Deutschland war der Grund, dass die Familie Petković eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erhielt. Andernfalls hätten sie als Asylsuchende gegolten. Hier wird klar, wie aktuell die Geschichte der Familie ist, und wie zufällig eine Lebensgeschichte sein kann. Vermutlich wäre Andrea als Flüchtlingskind keine große Tennisspielerin geworden – denn ihr Vater hätte in diesem Fall nicht als Tennistrainer arbeiten können. Das gilt für damals wie heute. Vor diesem Hintergrund bekommt Petkovićs Satz eine ganz besondere, zeit-lose Bedeutung: „»Unbefristete Aufenthaltsgenehmigung« und »Arbeitserlaubnis« waren vielleicht nicht die ersten deutschen Wörter, die ich als kleines Kind aussprechen konnte, aber es waren sicherlich die ersten deutschen Wörter, die ich klar als solche erkennen konnte.“
Noch unmittelbarer erfährt man etwas über die junge Andrea, wenn sie beschreibt, wie sie als Kind eingewanderter Eltern sich mit diesem Malus, der natürlich nie einer sein darf, mit und durch Tennis zu befreien suchte. Wie dies oft, sehr oft gelang, manchmal aber auch nicht, und was das mit dem auf dem Platz vor Zorn schreienden Teenager machte. Und wie diese Versuche des Hineinanpassens und Dazugehörenwollens immer wieder zu Situationen führten, die ihr unangenehm und zutiefst fremd waren. Besonders augenscheinlich – ich würde sagen geradezu die Essenz des Buches – ist die Passage, wie sie mit ihren Freundinnen aus gutem einheimischem Hause schwarz in der Straßenbahn fuhr: Sie werden eines Tages erwischt, müssen 40 Euro Strafe bezahlen, was Andrea mit Tränen in den Augen und voller Scham und Wut hinnimmt, ihre Freundinnen hingegen nahezu unberührt lässt. Wie sie über Wochen die 40 Euro zusammenspart, vor allem aber zuhause immer die erste am Briefkasten ist, um den Brief mit der Strafzahlung vor ihren Eltern abzufangen. Wie sie es schließlich schafft und ihre Freundinnen später fragt, wie sie es angestellt hätten, die 40 Euro zusammenzubekommen. Und wie diese Andrea völlig ungläubig anschauen und in nüchternem Ton feststellen, dass ihre Eltern es eben bezahlt hätten.
Besonders gelungen ist diese Stelle deshalb, weil Andrea Petković sie mit großen Werken der Literaturgeschichte geschickt verknüpft, in diesem Fall mit Philip Roths „Goodbye Columbus“, in dem es viel um Tennis auf und neben dem Platz geht. „Cocksureness“, bei Roth auf männliche Selbstüberschätzung bezogen, sieht die junge Andrea auch in und an ihren Freundinnen. Die Mischung aus persönlichen Erfahrungen, ganz gleich ob Sieg, Niederlage, Schmerz oder Freude, und die Verbindung dieser Emotion mit Literatur und einem scharfen Blick aufs gesellschaftliche Ganze. Das ist es, was Petkovićs auszeichnet. Ihre Geschichte zu lesen und sich selbst darin zu spiegeln macht großen Spaß und bringt einen innerlich weiter.
Günter Grass, der Mann mit K, argwöhnte, Rezensenten besprächen eher seine Person als seine Werke. Das gehört zum Handwerk. In dieser Hinsicht gefällt mir ihr Buch erst recht. Man spürt Andrea Petković durchgehend im Text, sie ist omnipräsent, weil sie ihr Erlebtes so wunderbar erzählen und darstellen kann. Man ist dabei – auf dem Platz, im Warteraum bei einem wichtigen FED-Cup-Spiel ihrer Freundin Angelique Kerber, stapfend auf den staubigen Straßen Sofias zum Tennisclub neben der noch jungen Andrea, die erst anfängt zu spielen, aber schon so weit weg von allem ist, was sie „zuhause“ nennt. Ja, und überhaupt ist sie schlicht sympathisch. Vor allem aber: Sie setzt sich für Literatur ein. Einen Buchclub zu gründen mutet ja schon irgendwie altbacken an, erinnert einen an amerikanische Serien der 80er und 90er, wo ältere Damen wie die „Golden Girls“ ihre Mittwochabende verbringen. Wie aktuell und cool so etwas aber sein kann, vor allem aber wichtig für die Literatur selbst, zeigt Andrea Petković nahezu täglich, wenn sie postet, welche Bücher gelesen werden. Und noch etwas macht sie so nahbar: dass trotz aller Erfolge ein sehr nachdenklicher Mensch vor uns steht, der seinen Platz im Leben sucht und damit nie aufhören wird, ganz gleich, ob er für eine kurze Weile gefunden wird.
David Emling
* Andrea Petković „Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht“, Kiepenheuer & Witsch, 2020, ISBN: 978-3-462-05405-7
Andrea Petkovićs Buchclub gibt’s auf Instagram: https://www.instagram.com/racquetbookclub/Petković
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