Und wieder ist es passiert. Wieder hat die amerikanische Umfrageforschung in einer wichtigen Wahl entscheidende Veränderungen in der Gesellschaft verpasst: Florida!
Wie gesagt, wer umfragt, kann irren, aber bitte nicht schon wieder, stöhnt der geplagte Bürger.
Zur Verteidigung wird vorgetragen, die „Modelle“ seien verbessert worden, man habe auch verstärkt auf „Bildung“ geachtet, aber es habe nicht gereicht. Das reicht nicht.
Was kann ich zur Verteidigung der Umfrageforschung vorbringen? Denn sie funktioniert. Immer dann, wenn sie ihren Kopf einschaltet, Lehrbuch nur als Grundlage, nicht als Bibel verwendet und dazu noch die Glaceehandschuhe aus- und die Gummistiefel für die Feldarbeit anzieht („Feld“ war der Fachbegriff für das Abklappern von staubigen Straßen und Gassen, um Bürgerinnen zu befragen – heute ist das alles elektronisch steril). Oder wie Luther dem Volk aufs Maul schaute, also anstelle von „Probanden“ Menschen um Mithilfe bei einer Umfrage zu bitten.
Weil’s im Lehrbuch steht, wird immer und ewich (ja mit ch) geschaut, wie Geschlecht, Alter und Bildung als „Verursacher“ einer Meinung, Werthaltung oder gar Handlung befragter Menschen funktionieren („demographische Merkmale“). Das ergibt oft Sinn, vor allem dann, wenn es gute Gründe für die Annahme der Wirkung von Alter auf ein Verhalten gibt (z.B. unterschiedliche Formen der abendlichen Betätigung). Noch viel öfter ergibt das keinen Sinn mehr, weil alte festgefressene Sozialstrukturen neuen Lebensformen gewichen sind (wie die Konsumstilforschung herausgefunden hat).
Und dann gibt es noch etwas. Was, wenn sich hinter so einem demographischen Merkmal mehr als nur eine Gruppe verbirgt? Dazu gibt es ein amerikanisches Beispiel: Zu den üblichen verdächtigen demographischen Merkmalen gehört in den USA das klebrige Merkmal „Race“ (oft „Black, White, Latino, Other“). Zur Freude der Routiniers liefert das Merkmal „Black“ fast immer schöne Unterschiede zu „White“. (Empfehlung der Redaktion: bevor Sie weiterlesen, genehmigen Sie sich einen Schluck der ehemaligen Whiskeykultmarke). Bereit?
In den üblichen Umfragen von 1.000, 2.000 Teilnehmern sind nicht genügend „Black“, um diese Gruppe detailliert zu betrachten. 1994 aber hat der General Social Survey (kann man googeln) extra mehr „Black“ gesucht und gefunden, um etwas genauer hinschauen zu können. Da hat man dann u.a. auch gefragt “When you think of social and political issues, do you think of yourself mainly as a member of a particular ethnic, racial, or nationality group or do you think of yourself mainly as just an American?” (Kurzfassung: Wenn sie über unsere Gesellschaft nachdenken, tun Sie das dann als Amerikaner(in) oder als Angehöriger einer anderen ethnischen Gruppe?). Da hat es dann richtig geknallt: von den „Black“ antworteten 28%, sie dächten an eine andere ethnische Gruppe, von den „White“ magere 3%. Anders gesagt, ein Drittel der „Black“ Teilnehmer denkt nicht im Sinne von „just an American“. Was machen wir damit?
Wir bilden vier neue Gruppen: „Just American/White“, „Just American/Black“, „Andere White“ und „Andere Black“. So: und jetzt kommt das, wofür Sie, hoffentlich, einen tiefen Schluck „Black and White“ getrunken haben: Untersucht man verschiedene politische Meinungen für jede Gruppe, dann findet man keinen Unterschied zwischen den beiden ersten „Just American“ Gruppen, während sich der Unterschied zu „Andere Black“ erheblich vertieft.
Anders gesagt: Während die „White“ Gruppe sehr homogen zu sein scheint, zerfällt die „Black“ Gruppe in zwei Teile. Der Witz ist, dass die „White“ fast immer so antworten, als seien sie „Just Black“ (Blackwashing?) und natürlich anders herum (Whitewashing). Kurz, der behauptete allgemeine Unterschied zwischen „Afro-Amerikanern und Weißen“ ist eine Erfindung der Umfrageforschung. Dass und warum ein Drittel der Afro-Amerikaner anders denkt, als der große Rest, das, und nur das sollte einem zum Denken bringen.
Was haben wir gelernt? Hinter scheinbar einfachen demographischen Merkmalen verbirgt sich doch komplexere Realität, der man nur beikommt, wenn man seinen Kopf einschaltet, so wie der General Social Survey. Aber dafür ist in der Hektik der Wahlforschung wahrscheinlich keine Zeit. Stattdessen schnitzt man sich lieber ein neues Modell und gibt magersüchtige Prognosen ab. In diesem Sinne bis zur nächsten Wahl.
Peter Mohler
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