Landswinda Vilare, 30. Mai 2111

Lieber Philipp,
morgen öffnen die Staatsarchive ihre Tresore zur Coronakrise von 2020. Aus Deinem Nachlass weiß ich, wie Dich diese Krise damals umgetrieben hat. Die fast wöchentlich wechselnden Informationen über das, was damals Covid19 hieß, haben Dich offensichtlich immer wieder sehr beschäftigt. Wie konntest Du das damals nur aushalten? Ich schreibe Dir heute, am Tag vor der Wahrheit, um mich Deiner und Deiner Generation zu erinnern, um noch einmal mir vor Augen zu führen, was vor fast hundert Jahren alles an Wahrheiten, Gerüchten, Machtspielen und platten Lügen auf Euch prasselte.
Da ist zuerst die bis heute offizielle Geschichtsschreibung, nach der ein todbringender Virus innerhalb weniger Monate sich über tausende von Kilometern verbreitete. Er wütete anfänglich sehr unterschiedlich; in München, dort schnell lokalisiert und eingedämmt, in Bergamo dagegen übel wütend, von Wuhan kennt man nur Ungefähres. Dann durchdrang er alle Welt. In Deiner Heimat, damals Europäische Union, heute Teil von  Palatina Occidentalis, traf er auf ein vernachlässigtes, ökonomisch ausgerichtetes Gesundheitssystem, das mit voller Wucht getroffen wurde und sich seitdem nicht mehr erholt hat, sondern gemeinwirtschaftlich betrieben werden muss.
Viele, auch Du, wollten einen klaren Kopf bewahren, alles tun, was möglich sei um eine Katastrophe abzuwenden. Die Bürokratie versuchte ihr Bestes, die Politik hörte auf manche Wissenschaftlers, Ihr Menschen ward damals enorm geduldig.
Von heute auf morgen habt Ihr Euer Leben auf den Kopf gestellt. Ihr habt privat auf fast alles, was das Leben wert macht, verzichtet, um schlecht geführte Pensionistenheime und die große Wirtschaft zu schützen. Immer wieder hat man Euch gesagt „haltet durch, in ein paar Wochen ist alles vorbei“. Im letzten großen Krieg haben das die Leute „Durchhalteparolen“ genannt. Wie gebannt habt Ihr auf die täglichen Nachrichten des Robert-Koch-Instituts gestarrt. Gehofft habt Ihr, dass die Zahlen irgendwie der Wirklichkeit entsprechen, weil Ihr sonst verrückt geworden wärt. Welle auf Welle habt Ihr durchgestanden, ohne dass klar war, wo genau der Virus zuschlug (morgen werden auch diese Daten öffentlich). Und dann, am 22. September 2021, als in Deiner Heimat der Notstand offiziell für beendet erklärt wurde (ein halbes Jahr nach anderen Ländern),  habt Ihr nicht einmal mehr die Kraft zum Feiern gehabt.
Das ist die eine Geschichte, die offizielle.
Parallel dazu wurde alles, was möglich ist erfunden, auch, dass es den Virus nicht gab. Das habt Ihr locker als Lüge weggeschoben. Andere Narrative haben Euch mehr zu schaffen gemacht. Etwa das Narrativ der relativen Harmlosigkeit des Virus, weil  bestimmte Rechnungen keine höhere Sterblichkeit ergaben. Dass das Maskentragen sogar die Grippe praktisch zum Erliegen gebracht hatte. Andere behaupteten, die hohe Sterblichkeit der künstlich Beatmeten sei auf Behandlungsfehler zurückzuführen, weil viel zu viele an die Beatmungsgeräte angeschlossen worden seien und diese seien reine Bakterienschleudern. Andere bezweifelten die Gültigkeit und Zuverlässigkeit der offiziellen Daten. Sie seien so schlecht erhoben worden, dass selbst der Papierkorb zu schade für sie gewesen sei.
Das alles habt Ihr weggesteckt, weiter gemacht, nicht die Bazooka ausgepackt, nicht die radikalen Parteien gewählt, nicht den großen Populisten auf den Leim gegangen (wohl aber den kleinen). Hut ab, Respekt. Ich weiß nicht, wie ich mich an Eurer Stelle verhalten hätte. Wahrscheinlich hätte ich revoltiert, aber das ist im Nachhinein leicht gesagt (vor allem unter der gütigen Herrschaft von Miranda III, Kaiserin von Palatina Occidentalis).
Lieber Philipp, ich hoffe, morgen wird das offizielle Narrativ bestätigt. Alles andere wäre sehr, sehr traurig. Hoffen wir.
In liebevoller Erinnerung
Dein Urgroßneffe
Heinrich Philipp