Der SPIEGEL, Deutschlands selbsternannte führende Nachrichtenseite, ist ein Hort der Ahnungslosigkeit und das nicht wegen der Relotiusaffäre. Nein, die ahnungslosen Redakteure vertrauen bei Wahlen auf Umfragen, die CICERO schon 2019 als schädlich für unsere Demokratie bezeichnete.*
Nun habe ich im November des letzen Jahres einen Einblick in die Suppenküche der Wahlumfragen gegeben.** Wie jeder weiß, ist Suppenkochen keine Wissenschaft, sondern eine praktische Tätigkeit. Genauso ist das mit der Umfrageforschung. Sie ist, wenn gelungen, eine herausragende Ingenieursleistung, welche die Kritik der Kathedermethodiker blass aussehen lässt. Aber um die geht es heute nicht.
Hier geht es um die „Geiz ist geil“ Umfragen, über die CICERO zu recht herzieht. Aus aktuellem Anlass, wegen der morgigen Wahlen dazu das Wesentliche, warum der Spiegel ein Tal der Ahnungslosen ist.
Dazu ein kurzer Blick auf die Methodik der Spiegelumfragen***:
„Das Meinungsforschungsinstitut Civey arbeitet mit einem mehrstufigen voll automatisierten Verfahren. Alle repräsentativen Echtzeitumfragen werden in einem deutschlandweiten Netzwerk aus mehr als 20.000 Websites ausgespielt (»Riversampling«), es werden also nicht nur Nutzer des SPIEGEL befragt. Jeder kann online an den Befragungen teilnehmen und wird mit seinen Antworten im repräsentativen Ergebnis berücksichtigt, sofern er sich registriert hat. Aus diesen Nutzern zieht Civey eine quotierte Stichprobe, die sicherstellt, dass sie beispielsweise in den Merkmalen Alter, Geschlecht und Bevölkerungsdichte der Grundgesamtheit entspricht. In einem dritten Schritt werden die Ergebnisse schließlich nach weiteren soziodemografischen Faktoren und Wertehaltungen der Abstimmenden gewichtet, um Verzerrungen zu korrigieren und Manipulationen zu verhindern.“
Halten wir fest: wer immer auf irgendeiner Website auf die Civey-Werbung stößt, kann sich registrieren und an Umfragen teilnehmen. Civey bastelt sich zuvor ein kleines Modell der deutschen Gesellschaft an Hand von Alter, Geschlecht (wie vielen Geschlechtern?), Stadt-Land (Bevölkerungsdichte) usw. Wer da nicht hineinpasst, kommt nicht in die Auswertung (dessen Stimme wird weggeworfen). Ein zweites Modell, das man nur erahnen kann, nimmt sich wahrscheinlich alte Umfragen vor und schaut dort nach Zusammenhängen zwischen Einstellungen (Civey nennt das Wertvorstellungen, was ein Graus) und Verhalten. Wenn also das Wählen der FDP irgendwie mit Freude am Denken korreliert (statistisch zusammenhängen könnte), oder das Wählen der SPD mit Freude am Wein, das der CDU mit Freude am Pfeffer, das der Grünen mit Badefreuden, der Linken mit Lippenstiftnutzung oder ähnlichem Unsinn der aus den den Daten herausploppt, schlägt das Civey Modell „automatisch“ zu. Wobei „automatisch“ schlicht ein Synonym für „Computerprogramm“ ist, das Menschen gemacht haben. Mit dem „Zuschlagen“ ist die wundersame Vermehrung oder Verminderung einer Person gemeint. Wenn eine Person 1 ist, dann sind zwei Personen 2. Soweit so gut. Wenn jedoch in dem Menschenkonglomerat, von Civey Stichprobe genannt, zu wenige Lippenstiftnutzende mögliche Linke sind, dann werden diese rechnerisch aufgeblasen: sie sind dann nicht mehr 1 sondern etwa 1,3. Zugleich werden die weinseligen SPDler reduziert auf, sagen wir 0,9, weil es von denen zu viele gibt. Das wird, wie Sie sich vorstellen können, ein ziemlich undurchsichtiges rauf- und runterrechnen, wenn Sie an die anderen Parteien denken. Irgendwann ist dann aber Schluss damit und es stehen da dann irgendwelche Zahlen auf dem Bildschirm.
Und da wird es dann richtig lustig. Der Spiegel berichtet am 10. März 2021 ein „Kopf an Kopf Rennen „ zwischen SPD und CDU in Rheinland-Pfalz (wann gab es die letzte „klare Wahl“ in Deutschland) 31% zu 30%. Aha, sagt der kleine Statistiker, das ist doch völliger Unsinn, denn „statistisch“ gesehen geht das nicht. Der berechnete Unterschied liegt doch im Unschärfebereich der Statistik, oder? Ja und Nein. Ja, wenn Civey eine sogenannte Zufallsstichprobe, besser „Wahrscheinlichkeitsstatistische Stichprobe Nach Neyman-Pearson“, gezogen hätte. Dann liesse sich ein Stichprobenfehler berechnen, der im übrigen immer wesentlich kleiner ist als die gesamte Ungenauigkeit einer Umfrage (Total Survey Error, lässt sich bingen oder googeln). Civey macht das aber nicht, wie oben ausgeführt. Civey macht eine Quotenstichprobe mit preiswertem Internetfischzug. Da kann man keinen Stichprobenfehler berechnen. Geht einfach nicht, auch wenn Civey sagt: „In unseren Grafiken ist der statistische Fehler als farbiges Intervall dargestellt.“ Wie gesagt, Geiz ist geil, aber so billig kommen die uns nicht davon.
Denn, mit Schlagwörtern wie „automatisch“, „Internet“, „viele Leute“, „statistischer Fehler“ kann man zwar Spiegelredakteuren etwas vormachen, nicht aber Ihnen, nachdem sie CICERO und das hier gelesen haben. Schade um das Geld.
Was heißt das nun für das Wahlergebnis in Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg? Hier gehe ich einen Schritt zurück zur Ingenieursleistung der Umfrageforschung. Das Modell, das ich mir von Deutschland mache, beruht auf langer Erfahrung mit Wahlen, Umfragen und dem Leben in Deutschland. Erfahrung hat gelegentlich den Nachteil, dass sie blind gegen Neues macht. Das Neue ist Corona. So ein Jahr wie das letzte sprengt unsere Erfahrung. Wir wissen nicht, ob die alten Zusammenhänge von Pfeffer, Wein oder Lippenstift mit Parteien noch gelten. Das müssen wir erst noch erfahren. Weil die Computerprogramme von Civey und anderen diese neue Erfahrung noch nicht enthalten, sind sie prinzipiell falsch. Und damit sind auch die Ergebnisse der sogenannten Umfragen nur mit spitzen Fingern in feuerfesten Handschuhen anzufassen.
Wenn es morgen für die Umfragen nach Civey et al. „gut“ geht, war das reines Glück, keine Ingenieurskunst. Wenn es nicht „gut“ geht? Sie sind gewarnt. In diesem Sinne, bleiben Sie negativ.
Peter Mohler
* Thomas Perry 2019 in www.cicero.de/wirtschaft/civey-yougov-umfragen-meinungen-empirie-methoden-demokratie
** https://blog4587.eu/soziologen-welt/wer-umfragt-kann-sich-irren/
*** https://www.spiegel.de/backstage/die-methodik-hinter-den-civey-umfragen-a-b50353b3-b072-43c8-ab70-7fab20d48710
Schlagwort: Wahlen
Es ist zu einfach, um wahr zu sein: Über 73 Millionen Wähler gaben Joe Biden ihre Stimme, so viele wie noch nie in der Geschichte der USA. Ein deutlicher Sieg sowohl in den absoluten Stimmen als auch bei den Wahlleuten, wohl über 300 (vielleicht sogar 306, genau jene Zahl von Trumps „Triumph“ vor vier Jahren; wäre keine schlechte Ironie). Die Demokratie hat zurück geschlagen, sich gewehrt gegen Populismus oder „Trumpismus“ (gibt es davon eine Definition, und wenn ja, wie viele?!) Dazu kommt, dass linke „Identitätspolitiker*innen“ (auch hier, Definition…?!) wie Alexandria Ocasio-Cortez, Rashida Tlaib oder Ayanna Pressley ihre Sitze im Repräsentantenhaus verteidigt haben. Alles gut, wir sehen, die linke Wahrheit ist endlich auf dem Durchmarsch, sogar in den USA.
Wären da nur nicht die paar Stimmen für Donald Trump. Mindestens 69 Millionen, wahrscheinlich mehr. Joe Biden also ist der Präsident, der die meisten Stimmen jemals bekam. Kurz dahinter liegt Donald Trump nach einer, sagen wir, sehr turbulenten Amtszeit. Es gibt sie also, die Trump-Fans, mehr denn je. Vor allem aber gibt es noch etwas: Junge Menschen, Schwarze, Latinos und Frauen, die ihn gewählt haben, und zwar auch ohne seine Fans zu sein, einfach, weil die demokratische Alternative nichts für sie war. Mist, schon ist die schöne Erzählung gesprengt, und mit ihr die sogenannten Lehren, die wir aus dieser Wahl ziehen können. Ich bin sicher, die Erklärungen dafür lagen schon lange in den Schubladen der Parteizentralen über den Globus verteilt, zum Teil wurden sie auch in einem euphorischen „die Demokratie schlägt zurück“ Ton veröffentlicht. Nur – diese Erklärungen passen eben nicht. Die USA sind, bleiben (und vor allem: waren schon immer) ein gespaltenes Land. Fliegen Sie mal, wie ich es mal getan habe, vom kalten New York ins warme San Diego – Eis und Schnee allenthalben, nach sechs Stunden Flug (sechs!) ist man noch immer im gleichen Land, aber mit Palmen und Sonne erwartet einen ein anderes Leben (von der Pampa in Wyoming oder der Natur Alaskas ganz zu schweigen). Das ist wahrlich nicht einfach zusammenzubringen, vielleicht auch gar nicht möglich.
Was also tun? Vielleicht, ausnahmsweise, gar nichts. Froh sein, wie die meisten, dass es dieses Mal ein pragmatischer und erfahrener Politiker (und tatsächlich Politiker, nicht Entertainer) geschafft hat, Präsident zu werden. Hoffen, dass er einige gute Projekte durchbekommt. Aber nicht meinen, dass nun auch der letzte Amische in Pennsylvania verstanden hat, dass die moderne Identitätspolitik, angeführt von demokratischen Sozialist*innen, endgültig gesiegt habe. Es könnte in vier Jahren ein böses Erwachen geben, mit einem dann 78-jährigen Präsidenten. Republikaner. Sie wissen schon, wen ich meine…
David Emling
Gut, Sie haben mich erwischt. Bevor es jemand merkt, sage ich es gleich. Die Unterscheidung im Titel kommt so oder so ähnlich von Ingo Zamperoni, halber Italiener mit amerikanischer Frau, als Italo-Amerika-Deutscher oder so was, ein Graus für jeden guten AfD’ler. Hiermit kenntlich gemacht, bitte kein Entzug des Doktortitels, ich habe sauber gearbeitet…
Worin liegt der Unterschied zwischen Verstehen und Verständnis haben? Darin, sich die Mühe zu machen, etwas zu durchdringen, oder nur an der emotionalen Oberfläche herumzukritteln. Also den Pickel aufkratzen oder ihn richtig ausdrücken, damit das Ding weggeht.
Und damit sind wir bei der Frage, die viele von uns immer wieder beschäftigt in diesen Tagen, Wochen, vier Jahren: Warum wählt jemand Trump?
Die Frage ist an sich schon bescheuert, man könnte auch fragen, warum jemand gerne Spaghetti-Eis isst. Es gibt tausend Gründe, und das Schlimme ist – siehe die Blogs meines Freundes zur Umfrageforschung – dass der Befragte selbst, selbst dann, wenn er ehrlich antwortet (bei Weitem nicht immer der Fall), es nicht immer sagen kann. So gesehen und gehört bei Ingos Schwiegervater, der Trumps Charakter nicht mag, seine Rhetorik abstoßend findet und vieles mehr, aber ihn wählt. Warum?! Na ja, die Wirtschaft halt. Guter Geschäftsmann, fertig. Stimmt zwar nicht, aber wen juckt’s?! Also wir lernen: Eine Wahlentscheidung kann aus tausend und einem Grund (nicht Nacht) geschehen, lange vorher, impulsiv, noch im Wahllokal, wegen eines Werbespots, sogar eines Wahlplakats. Schlimmer noch: Aufgrund unserer Sozialisation und unserer Umgebung (hier wurde schon immer … gewählt), also vielem, was in unserem Innern stattfindet und gar nicht expliziert werden kann. Dazu noch die amerikanische Geschichte, das Zwei-Parteien-System (oh je, was mach ich, wenn ich beide nicht mag?! Gar nicht wählen?! Auch nicht gut, also Augen und Nase zu und das Kreuz machen), und natürlich nicht zu vergessen die Rede (oder Mär) vom Sozialismus, der schon um die Ecke lugt, wenn mehr Amerikaner krankenversichert wären. Einfach für uns zu sagen, aber dort drüben über Jahrzehnte, Jahrhunderte eingeübt. So leicht kriegt man das nicht raus.
Kurzer Schwenk nach Deutschland, bevor wir uns über „die“ Amerikaner erheben, (gab es leider häufiger in den letzten Jahren) Es wird oft behauptet, Wahlentscheidungen bei uns wären reflektierter. Ich erinnere mich gut an ein herrlich einseitiges Plakat der Jungen Union vom Bundestagswahlkampf 2013. Die berühmte Merkel-Raute oben, darunter „Cool bleiben und Kanzlerin wählen.“ Ja geht es noch banaler?! Und geht es noch überzeugender?! Wir erinnern uns, dass die Kanzlerin (formal auch die CDU) die Wahl mit 41,5% gewann, hauchdünn an der absoluten Mehrheit vorbeischrammte (für viele in der SPD auch: leider). Tja, so ist das mit den reflektierten Wahlentscheidungen, nicht wahr?
Also, merken wir uns doch einfach, dass eine Wahlentscheidung im Kopf eines jeden entsteht, wie eigentlich alles, und dass sie, wie eigentlich alles, sehr kompliziert ist. Und merken wir uns doch einfach auch, dass es nicht an Herrn Plasberg ist, seine Unwissenheit und sein Mangel an Verständnis auf das „komplizierte amerikanische Wahlsystem“ abzuwälzen. Es funktioniert dort seit bald 250 Jahren, und erklären Sie bitte mal einem Amerikaner, warum momentan insgesamt 111 Abgeordnete aufgrund eines „Überhangmandats“ (46) sowie „Ausgleichsmandats“ (65) im Deutschen Bundestags sitzen. Mein Verständnis geht Richtung Null! Verstehen kann ich es sehr gut…
David Emling
Wann wurden zuletzt bei uns die Schaufenster wegen einer Wahl aus Angst vor Gewalt verbarrikadiert? Bereitet sich Amerika auf einen Bürgerkrieg vor?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Wahl zwischen Habeck und Merz irgendwo zu mehr als hitzigen Wirtshausdiskussionen ausarte, aber das könnte ja noch kommen. Denken Sie sich mal, den Kudamm, die Zeil und die Klappergass zugebrettert, weil marodierende Merzianer auf die Jagd nach Habecks gehen!
Die amerikanische Wirklichkeit scheint anders auszusehen. Zumindest wenn man den Bildern trauen kann (trau keinem digitalen Bild, wenn analoge schon so leicht zu fälschen waren, sagt der hintertupfinger Freund). Postieren sich deutsche Reporter vor zugenagelten amerikanischen Schaufenstern. Gruselig. RND, wer immer das ist, aber Google findet alles, also RND schreibt in der Überschrift: „Die Geschäfte in Washington werden verbarrikadiert“, im Text wird daraus; „etliche“ Ladenbesitzer würden vor allem in New York, Chicago und Washington ihre Läden zubrettern. Und dann noch eine erschreckende Zahl: 600 in allen drei Städten insgesamt. Na ja, das sind ja auch kleine Städte, da fällt so etwas schon auf.
Oder sind das Geschäfte an den üblichen Brennpunkten von Demonstrationen, wo es öfters mal heiß hergeht?! Wer weiß das schon.
Wir werden sehen, hoffentlich nicht, hoffentlich nicht.
Philipp Frankfurter
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