Wilder Südwesten

Kategorie: Frankfurters Welt (Seite 2 von 5)

„Ich tendiere zu einer Impfpflicht“

sagt Christian Lindner, der Führer der Liberalen, am 2. Dezember 2021 in der FAZ. Jawoll, gepflegt gesagt, weniger gepflegt weitergedacht. Nein, nicht was  Sie gleich denken, wieder so ein Querkopf, der sich wissenschaftlicher Erkenntnis verweigert. Nein, gerade anders herum.
Wenn ich mich hinstellen würde und sagen, irgend etwas sei ultima ratio, absolut notwendig, um eine große Gefahr abzuwenden, dann würde man mich sofort nach der Evidenz meiner Ansicht fragen.
Würden Sie meinem Rat folgen, wenn ich zugeben müsste, nur über unzulängliches Wissen hinsichtlich des Vorkommens und der Verbreitung der Ursache meiner ultima ratio zu verfügen? Würden Sie mir folgen, wenn ich zugeben müsste, die allgemeinen Abwehrkräfte nicht gestärkt, sondern geschwächt zu haben? Würden Sie dennoch dreimal täglich Rizinusöl  schlucken?
Wer Impfpflicht sagt und das wie Lindner als ultima ratio hinstellt, muss sich deshalb solche Fragen gefallen lassen, die da wären: Warum fordern Sie nicht eine genaue Erfassung der Inzidenz zusammen mit dem derzeitigen Impfstatus (siehe Bayern)? Warum bestehen Sie nicht darauf zwischen „mit“ und „an“ Corona erkrankt oder verstorben unterscheiden zu können? Wo sind die vom Bundesrechnungshof gesuchten tausende Intensivbetten abgeblieben? Welche Maßnahmen wurden unternommen, um die Arbeit des pflegenden Personals nachhaltig zu verbessern?
Wie wollen Sie, Herr Lindner, aus der Pandemie kommen, wenn Sie weiterhin über keine klare Sicht auf die Dinge verfügen können? Was glauben Sie passiert, wenn weiter Intensivbetten klammheimlich abgebaut werden oder das Personal in Scharen davonläuft? Was wenn selbst die Vollgeimpften, wie ich, aus weniger betroffenen Gebieten, Ihnen die Gefolgschaft aufkündigen?
Ich für meinen Teil tendiere gewöhnlich dazu, nicht nur in bürokratischen Maßnahmen zu denken, sondern in gesellschaftlichen und ökonomischen Prozessen. Und dazu gehören verlässliche Informationen. Aber das scheint selbst den Liberalen nicht mehr so wichtig zu sein.
Philipp Frankfurter

Blindflug ohne Instrumente

Was wäre Navigieren heute ohne Instrumente? Wir  kämen nicht bei Franz in Rose Street, Key West,  rechtzeitig zur Weihnachtsfeier an – wenn überhaupt, Fliegen wäre nur sicher bei Sonnenschein, aber nicht gegen die Sonne, Schiffe strandeten allerorten, wo sie nicht sein wollten.
Jedoch, in dieser Pandemie sind wir der festen Überzeugung ohne Instrumente unseren Weg ganz sicher zu finden.
Die Geschichte der Wissenschaft ist voller scheinbar putziger Anekdoten über instrumentenfreie blindwütige Katastrophen. So etwa Folgende: eine britische Armada ist auf Heimfahrt, Herr Admiral gibt Befehl „da lang“, der Obermaat räuspert sich und meint, „da lang“ seien Untiefen. Damals war Widerspruch ein todeswürdiges Verbrechen. Also wurde der Obermaat kurzerhand an der Rah aufgeknüpft. Dadurch entging er allerdings dem kläglichen Ersaufen, alldieweil in der stürmischen nächsten Nacht die herrliche admiralblindgesteuerte Armada auf die besagten Untiefen lief und absoff.
Warum? Das war die Zeit, bevor es genaue Längenmessungen (Längengrad/Breitengrad) mittels exakter Uhren gab. Man konnte zwar den Breitengrad gut bestimmen, aber wo man da gerade war, ob in Berlin, Paris oder Warschau, musste man irgendwie abschätzen. Und da galt halt des Admirals Meinung mehr als des Obermaat Erinnerung.
Heute heißt solches Abschätzen „Modellieren“. Das heißt, ich versuche vernünftige Annahmen über die Geschwindigkeit und Richtungswechsel meines Schiffes zu machen, um dann abzuschätzen, wo ich in zehn Stunden sein könnte, aber nicht unbedingt sein muss, siehe oben.
Und was hat das mit heute und Corona zu tun? Alles. Beispiel: heute sind in einem amerikanischen Bundesstaat 2 Omicron Corona Fälle festgestellt worden. Zufällig, weil zufällig per Test erfasst. Nicht systematisch im Rahmen eines engmaschigen dauernden Beobachtungsystems. Nur dann wüsste man, ob 2 viel oder mehr oder weniger nichts ist.
So ein dauerhaftes Beobachtungssystem wären sehr große Bevölkerungsstichproben, wo sagen wir, 1 Million Menschen zweimal die Woche getestet werden und auf Corona Kontakte befragt werden usw. Man kann sich das wie eine engmaschiges Netz vorstellen, in dem die relativ wenigen Fälle Corona positiv Getesteter systematisch gefunden werden. Warum „wenige Fälle“? Sind 70.000 pro Tag nicht eine enorm große Zahl. Im Prinzip ja, sehr groß, doch bezogen auf 80.000.000 Einwohner nur 0,08%, die sich bis auf Hotspots übers ganze Land verteilen (rechnerisch 223 pro Quadratkilometer).
Wenn man weiß, wo man die Einwohner  üblicherweise findet, also in Gemeinden und Städten, ist es allerdings relativ einfach, eine angemessene Stichprobe für eine „Coronadauerbeobachtung“ zu planen. Für, an den übrigen Coronakosten gemessen, kleines Geld könnte man dann sein Meßinstrument bauen, nutzen und dann die Untiefen der wechselhaften Lockdowns durch exaktes Ausloten vermeiden. Natürlich wäre das mit Anstrengung verbunden, denn ein Messen indem man mit Menschen Kontakt aufnimmt und mit ihnen kommuniziert, erfordert Kraft, Einfühlungsvermögen, Geduld und größte Beharrlichkeit. Dies ist nicht jeder Wissenschaftlerin gegeben.
Sind ja neugierige Leute, diese Wissenschaftler, oft menschenscheu und ungeduldig.
Deshalb lieber im warmen Stübchen den Computer anwerfen, sich ein paar lauwarme Gedanken machen, was denn so der Fall sein kann, im Web nach Zahlen suchen, die wie Daten aussehen, aber keine sind, weil nicht „gegeben“ (datum), sondern „erdacht“, „erzettelt“ oder „erzählt“ sind. Was diese Zahlen mit gemessenen Daten gemeinsam haben ist alleine ihre Form, also „1234567890“,  damit kann man den Computer gut täuschen.
Das ist nicht meine Welt, Frau Admiralin, ich will keinen Blindflug ohne Instrumente, ich will exakte Daten. Und, „da geht’s lang“ modelliert, da ist mit Verlaub gesagt in meiner Erinnerung eine Untiefe. Ihr könnt mich jetzt für meine unbotmäßige Meßsucht hängen, aber das ist mir dann doch lieber, als demnächst elendiglich zu ersaufen.

Philipp Frankfurter

Trauma 2021

Da steht sie vor mir, die Krankenpflegerin, geimpft und doch war sie von Corona heftig gebeutelt. Gedämpft und heute geschützt durch FFP 2 erzählt sie, wie es ihr erging. Wie sie eine fast volle Ladung Viren abbekam, schwerlich gebremst durch die einfache OP-Maske.
Da steht er vor mir, der Kollege, der seine todkranke Angehörige weder fühlen noch sehen durfte, egal, ob er das Risiko der Ansteckung auf sich nehmen wollte oder nicht.
In der Luft hängen noch die stummen Schreie nach Zuwendung, die verzweifelten Gebete nach Nähe, die laute Trauer der Ausgesperrten.
Welcher Teufel ist in uns gefahren? Wieso konnten wir unsere Menschlichkeit so leicht aufgeben? Warum standen wir nicht für einander ein?
Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?
Hier bei und unter uns.
Was für ein Elend.

Philipp Frankfurter

Sunday for Privacy

Was interessiert mich, mit wem Wowereit Händchen hält und Maas sich nach Dienstschluss herumtreibt? Was interessiert mich, was Döpfner oder ich oder Du so en passant über die Welt und Andere untereinander austauschen. Alles Deppen, außer uns, wer hat das noch nicht gesagt? Was interessiert mich das Privatleben anderer? Jaaaa, meine Neugier, Gier auf dunkle Stellen, außergewöhnliche Sexpraktiken, wie zum Beispiel die Bekehrtenstellung.
Aber die Gier ist ja eigentlich eine Sünde oder?
Demnach sündigt unsere Gesellschaft derzeit in einem fort. Wie wäre es mit einem Sunday for Privacy? Keine Klicks mehr auf die Neugierartikel? So lange, bis sie sich nicht mehr lohnen für die Aasgeier der Neugier? Oder wollen wir uns weiter am Aas laben?
Igitt!

Philipp Frankfurter

Manipulation

Und wieder laufen, hin und her, versuchen zu Ihr durchzukommen. Der Weg ist versperrt, der nicht begehbar, mühsam, keuchend durchs Watt sich vorkämpfen, irgendwann verzweifelt an einer Hotelrezeption nur noch um ein Zimmer für die Nacht bettelnd, da, von der Seite, ein strahlendes Lächeln, ich bin da, habe Dich die ganze Zeit gesehen.
Jähes Aufwachen aus dem Traum. Was hätten Sie gefühlt?
Unbändige Freude, dass es doch geklappt hat? Doch das Ziel erreicht!
Nicht bei mir, der letzte Teil des Traumes war wütend, zornig und beziehungsbeendend. Es gibt Spiele, die ich nie gespielt habe, bei denen ich nicht mitgemacht habe und nicht einbezogen werden will.
Einen bewusst zu hintergehen, mit der Verzweiflung der anderen spielen, abgehoben sich fast allwissend geben, nicht meine Sache. War ein übler Traum. Er kam aus dem Nichts. Einfach so, oder auch nicht? Wo gab es in letzter Zeit solche bewusste Manipulation?
Wie wäre es mal sich zu erinnern. Zum Beispiel an die Stellungnahme der Leopoldina zu Corona, wo Masken als untauglich bezeichnet wurden. Unterschrift: die allwissende Kollegenschaft. Manipulation? Ja, wenn man die alten Datenblätter der Berufsgenossenschaften kennt, die eindeutigen Schutz vor Viren durch geeignete Masken im beruflichen Alltag schon lange vor Corona festgestellt haben.
Oder, an die noch maskenlosen Hygienemaßnahmen zu dauernden Händedesinfektion. Nichts gegen saubere Hände, aber gegen Aerosole helfen die garantiert nicht, nur Drosten traute sich (damals) noch dies leise zu erwähnen.
Oder an die endlosen Versprechungen zur Freiheit, eine nach der anderen wegvergessen. Nachfragen irrelevant.
Oder, die Impfpflicht mit Hinweis auf die AfD abzulehnen (weil die es will) oder, oder, oder.
Corona ist vorbei. Wir sind wieder frei, so der Traum.
Was wird sein, wenn alle aus dem Traum erwachen, was werden sie fühlen? Unbändige Freude oder unbändige Wut?

Philipp Frankfurter

Buwe

Da sitzen sie jahrein, jahraus im Parlament. Auf der Bank gegenüber die großkotzigen Blaulichtfahrer. Kurz vor Sitzungsende demonstrativ die leere Aktentasche ergriffen und raus zur Blaulichtsause durch Berlin, am besten gleich als Kavalkade.

Das macht die Buwe (und Mädele) im Halbrund grundneidisch. Will auch haben. Denn das mit dem Blaulicht bekommt man ja sonst nur bei Mord und Totschlag oder Herzanfall.

Und kaum ist die Wahl vorbei, schon schielen sie auf das Amt mit dem Blaulicht. Das Ziel jeden Berufspolitikers ist  die eigene Blaulichtkavalkade bei 180 auf der Autobahn und bei Rot über die Ampel.

Ampel? Habe ich da was gesagt? Nein, es geht sicher um die Zukunft. Ganz sicher?

Philipp Frankfurter

Kiesinger 2.6

 

Es war einmal in einem nahen Land in einer fernen Zeit, als König Kurt-Georg den Thron bestieg. Die Zeit war reif, nicht für Ihn, aber davon ahnte er nichts, Das Reich war offensichtlich gefestigt, alles ging seinen Gang. Bei genauerem Hinsehen ging wenig oder nichts und wenn, dann rückwärts. Der Ansturm von Rock‘n Roll war abgewehrt. Der Schlager summte vor sich hin. Dixieland und Swing kamen zurück als fast Vorkriegsware, so wie König Kurt-Georgs Vorkriegsbiografie vielen nicht auffiel. 

Dann kam ein unerwarteter Wumms. Mädels kreischten sich die Seele aus dem Hals, Jungs tanzten sich ins Delirium, auch ohne Drogen, oft aber mit. Die bleierne Stille des Landes zeriss unter dem Ansturm einer neuen Zeit: die 68er waren geboren. König Kurt-Georg versank in der politischen Versenkung und König Willy wagte mehr Demokratie. Von da an ging es bergauf, lange Zeit.

Es ist einmal heute in einem nahen Land in nicht allzu ferner Zeit, nachdem König Olaf den Thron bestiegen hat. Die Zeit war wieder reif, aber nicht für ihn, davon ahnte er nichts. Das Reich war offensichtlich gefestigt, alles ging seinen  eingeschränkten Gang. Bei genauerem Hinsehen, ging wenig oder nichts und wenn, dann rückwärts. Der Ansturm des finnischen Hard Rock war abgewehrt. Helene Fischer auf dem Weg in die Rente. Die Beatles und ABBA kamen zurück, fast unschuldig, so wie König Olafs Biografie, was nur wenigen auffiel.

Als CSDI wieder auferstand, hörte man schon die Erde beben. Wieder kam ein unerwarteter Wumms, die Jugend warf die bleierne Last der 68er Bibeltexte ab. Die Jungs schrien sich die Freiheitslust aus der Seele, die Mädels taten es ihnen gleich. Ganz ohne Drogen, fast. Die Neue Freiheit war geboren. Die Musik, das Leben, riss sie mit sich und König Olaf in den Untersuchungsausschuss.
Philipp Frankfurter 

Endlich das Ende des Parteipopulismus

Nicht nur die deutsche Politik litt unter der Fuchtel der vermeintlichen direkten Demokratie. Erstaunlich, wie man glaubte, komplexe Fragestellungen, wie einen Koalitionsvertrag, von der Mitgliedschaft entscheiden lassen zu können. Und dann auch noch mit Ja-Nein. Schlichter geht es nicht. 

Denn, entweder die von mir gewählte Leitung ist gut, dann macht sie gute Verträge im Sinne meiner Partei. Wenn nicht ist sie schlecht, dann wird sie abgewählt. 

Ohne ein umfassendes Mandat kann keine Verantwortliche gut verhandeln. Sie steht immer unter dem Vorbehalt eines populistisch aufgeladenen Plebiszits.

Nicht nur deshalb war die Groko strukturell unprofessionell. Der Mitgliederentscheid war ein entscheidender Schwachpunkt für die Verhandlungsführer der SPD.

Damit ist seit gestern Abend Schluss. Die Kanzlermacher Habeck und Lindner wollen nur verhandeln mit Leuten, die Prokura haben. Was in der Verhandlung beschlossen wird, kann an Ort und Stelle ohne Verzug vertraglich abgeschlossen werden. 

Das kühnertsche Spiel über Bande ist damit beim Teufel. Zugleich ist die Verantwortung eindeutig bei den Prokuristen, nicht bei einem amorphen Mitgliederentscheid, Wenn es gut geht, gut so, wenn es schlecht geht, werden die Verantwortlichen sanktioniert.

PS wenn ich Habeck und Lindner wäre, käme weder Scholz noch Laschet als Kanzler in Frage: einer macht eine schlechte Figur, dem anderen hängt die Strafverfolgung im Genick, nix gut, würde ich sagen wollen.

Philipp Frankfurter

Anno 1421 nach Philipp Frankfurter und Ockham’s Razor Anno 2021

Es begab sich am Abend des St. Magdalenentags im Jahre 1421 zum Dom in Mainz als die Gemeinde tief in Rosenkränzen versunken unverhofft im Finstern saß. Alle Kerzen mit  einem Male erloschen. Ein vielstimmiges Ahhh erscholl, ein Zeichen Gottes! Der Hauch des Heiligen Geistes hatte die Kerzen gelöscht! Laut wurde Gott für dieses Wunder gepriesen. Als von hinten die sonore Stimme des Küsters rief „mach die Deer zu s‘zieht“.

Am nächsten Tag ward der Scheiterhaufen gerichtet und der vorwitzige Küster ins verdiente Jenseits befördert. Bis heute wird seiner Blasphemie an jedem St. Magdalenentag mit Schaudern gedacht.

Was, fragt der sich modern dünkende Mensch, war in die Leute in Mainz nur gefahren? Nichts besonderes, antwortet die zeitgenössische Psychologie. Es ist das dunkle, mysteriöse, das uns anstelle des alltäglichen „es zieht“ in seinen Bann schlägt.
Ist ja gut für spannende Geschichten. Weniger gut, um mit wirklichen Dingen, wie ausgepustete Kerzen vernünftig umzugehen
.“ Philipp Frankfurter, Blog4587.eu

Lieber Philipp, so weit so kurz. Viel zu kurz, fast ein echter Kurz. Spaß beiseite, warum zu kurz? Weil Du, verehrter Herr Kollege*in, den wesentlichen Knackpunkt einer populären Darstellung zu Liebe weggelassen hast. Dieser Knackpunkt heißt im Fachjargon der Philosophen Ockham’s Razor und besagt Folgendes: wenn es für einen Sachverhalt zwei miteinander konkurrierende Erklärungen gibt, dann solle man die einfachere, mit weniger Annahmen verbundene, Erklärung als zutreffend nehmen.
In Deinem Falle sagt Erklärung 1 es genügte, sich an Kinder und Pusteblumen zu halten und empirisch den Versuch machen ob „Tür auf und Zugluft“ die Kerzen zum Erlöschen bringt oder nicht; Erklärung 2 benötigte erstens einen Gottesbeweis, zweitens eine Annahme, das Gott als Heiliger Geist Luftzug erzeugen kann, drittens, dass es gute Gründe gibt, dass der Heilige Geist sich der Kerzen im Mainzer Dom annahm.
Es ist offensichtlich, dass „Tür auf“ weniger Annahmen zur Erklärung benötigt und, noch viel besser, empirisch beliebig wiederholbar ist. Nach Ockham’s vernünftiger Regel, wäre des Küsters Erklärung (Theorie) als „wahr“ oder „richtig“ zu akzeptieren.
Doch Ockham und all die anderen nach Licht und Erkenntnis strebenden haben die Rechnung ohne die Sehnsucht nach „großen“, „tiefen“, „hintergründigen“ Welterklärungen gemacht. Und auch ohne die Faulpelze, die lieber spekulieren als empirisch hart zu arbeiten oder die Unbescheidenen, die sich grundsätzlich nicht mit irgendeiner Beschränkung und sei es die Lichtgeschwindigkeit oder Gott abfinden wollen.
Die modernen quasi Mystiker der Wissenschaft gehören dem Geheimbund der „Modellierer“ an. Wie sagt aber der alttestamentarische Gott? Du sollst kein Bild von mir machen! Und was ist ein Modell? Ein Abbild, eben. In Deinem Fall ein Abbild von etwas empirisch noch nicht oder vielleicht gar nicht Fassbarem. Wenn ich mit meinem Modell fertig bin, stelle ich es wie eine Götzenfigur hin und lasse es (und damit natürlich auch mich, dessen Schöpfer) anbeten. Bin ich deutlich genug?

Klingt alles etwas bizarr? Nun, wie wäre es mit etwas Erinnerung an frühere Götzenbilder : zum Beispiel die vielen abgestürzten Modelle der Wahlforscher, die Fehlprognosen des Club of Rome, oder mal ganz anders, die Schreckenszenarien der Weltuntergangsleute Anfang des 20. Jahrhunderts.

Gegen diese Modellgötzen stehen Rosling und die Phalanx der langen Zeitreihen von statistischen Ämtern und Umfragen. Allerdings, ihnen fehlt das dunkle, mythische, eben die unheimlich Begegnung der 4. Art. Also müssen sich die Empiriker heute, im Jahr 2021, weiterhin und ganz besonders tapfer gegen die schrecklichen Vereinfacher, genannt Modellierer, unterschiedlichster Couleur zur Wehr setzen. Corona sei’s geklagt.
Wie gesagt, das Mystische des Modellierens hat einen unheimlichen, höllischen Sog. Es zieht die Politik an und die in ihr agierenden Politiker. Und wir lauschen angespannt, weil es so viel spannender ist, als des Küsters schlichter Ruf „mach die Deer zu, s’zieht“.
Anders gesagt, Modellierer, das sind die neuen Gottesersatzleute, die mittels Excel und höher es schaffen, den Heiligen Geist wahrscheinlicher als des Küsters Zugluft zu machen. Goodbye Ockham, welcome Modellschreiner Müller.

Also verehrter Philipp, seien wir vorsichtig, bevor wir das Offensichtliche sagen, es könnte uns vielleicht ganz real heiß unter den Füßen werden.

Peter Mohler

 

Anno 1421

Es begab sich am Abend des St. Magdalenentags im Jahre 1421 zum Dom in Mainz als die Gemeinde tief in Rosenkränzen versunken unverhofft im Finstern saß. Alle Kerzen mit  einem Male erloschen. Ein vielstimmiges Ahhh erscholl, ein Zeichen Gottes! Der Hauch des Heiligen Geistes hatte die Kerzen gelöscht! Laut wurde Gott für dieses Wunder gepriesen. Als von hinten die sonore Stimme des Küsters rief „mach die Deer zu s‘zieht“.

Am nächsten Tag ward der Scheiterhaufen gerichtet und der vorwitzige Küster ins verdiente Jenseits befördert. Bis heute wird seiner Blasphemie an jedem St. Magdalenentag mit Schaudern gedacht.

Was, fragt der sich modern dünkende Mensch, war in die Leute in Mainz nur gefahren? Nichts besonderes, antwortet die zeitgenössische Psychologie. Es ist das dunkle, mysteriöse, das uns anstelle des alltäglichen „es zieht“ in seinen Bann schlägt.
Ist ja gut für spannende Geschichten. Weniger gut, um mit wirklichen Dingen, wie ausgepustete Kerzen vernünftig umzugehen.

Es passt uns nicht, wenn Leute wie der Küster unsere schönen Geschichten zerstören. Dann werden wir fuchsig. Wenn einer etwas von wiederkehrenden Überflutungen über Jahrhunderte anmerkt oder den Unrat in den Dörfern des 19. Jahrhunderts mit den geschleckten Gehsteigen des 21. Jahrhunderts vergleichen mag.

Aus Umweltschutzgründen zünden wir heute keinen Scheiterhaufen mehr an, aber wir entfachen dafür einen veritablen Shitstorm, der seinesgleichen sucht und noch jeden Küster erledigt hat.

Deshalb ist auch heute Vorsicht geboten, das zu Offensichtliche, Einfache oder Naheliegende zu sagen, wenn es stattdessen eine wunderbare, mystische, gottgleiche fabelhafte Geschichte gibt.
Philipp Frankfurter

« Ältere Beiträge Neuere Beiträge »

© 2025 Blog4587

Theme von Anders NorénHoch ↑