Wer wissen und nachfühlen möchte, wie sich die mit Sprechblasen und Durschnittsneurotikern wohl bestückte Arbeits- und Lebenswelt aktuell darstellt, dem sei „Daniels Hang“ von David Emling ans, hoffentlich noch, empathische Herz gelegt. Ob sich der Protagonist aus diese Hängewelt ins Freie schaufeln kann müssen die Leser schon selbst herausfinden. Spannende Tristesse mit Sonnenflecken garantiert. Erschienen ist seine Novelle kürzlich im Verlag Neuwerk (Freiburg) – https://verlag-neuwerk.de/produkt/daniels-hang/ (broschiert 11€ gebunden 16€ oder drei Bier oder so…)
Kategorie: Literaten Welt (Seite 1 von 2)
Ich muss mich beeilen. Meine große Tochter kommt bald von Oma und Opa nach Hause, die Kleine mit ihren sechs Wochen wacht sicher bald auf. So ist das nun einmal als Eltern, und dennoch hab ich etwas Zeit, weil ja die Familie da ist und uns hilft. Man könnte auch sagen: Ist alles einfacher aufm Dorf.
Und schon sind wir mittendrin in einem Thema, das dann doch kurz meine Stellungnahme Herausfordert. Es geht um den Artikel „Die Verdorfung der Literatur“ der FAZ am Sonntag dem 5. September. Ich bin Autor, wohne auf dem Dorf, also schauen wir mal…
„Verdorfung“ klingt ja schon sehr negativ, und die Autorin will das auch bezwecken, und zwar in einer gelungenen Art. Die „neuen Dorfromane“ nerven sie, und zwar die kleinen wie auch die großen Bestseller von Juli Zeh bis Judith Herrmann. Warum? Weil der Rückzug aufs Dorf fast immer romantisiert und damit radikal vereinfacht wird. Der die gestressten Städter, der die mal aufs Dorf muss, um Ruhe zu finden Dort allerlei schrullige Typen trifft treffen, die die Einfachheit der Provinz verkörpern. So weit, so grobschlächtig, aber eben deshalb auch ein Garant, um viele Bücher zu verkaufen, weil man damit halt ein Nerv bei den Leuten anspricht. Dann wird das in der Regel noch garniert mit einer radikalen Sinnsuche der Protagonistin, die meisten Geschichten spielen im Osten Deutschlands, hat man also ein bissl was zusätzlich für die Repräsentation der ach so armen „Abgehängten“ im Osten getan und versucht obendrauf, die zu verstehen.
Besonders perfide ist das, weil es eine Sichtweise auf die Welt reproduziert, die falscher nicht sein könnte, nämlich „das Dorf“ als einer übersichtlichen Aneinanderreihung ebenso übersichtlicher Lebensentwürfe und –läufe zu sehen. Dem muss man vehement widersprechen, was leider die FAZ-Autorin nur so halb oder, wie man bei uns auf dem Dorf sagt, „viertels“ tut. Diese demonstrative Darstellung einer schlichten Übersichtlichkeit zeigt, dass die Autorinnen solche Bücher nicht ernsthaft bereit sind, tatsächlich auf die Weltsicht „der Dorfgemeinschaft“ einzugehen, also eine Art Ethnographie des Dorfes zu betreiben, sondern in ihrer wunderbar großstädtischen und coolen Distanz hängen bleiben – und so nichts vom Dorf sehen noch verstehen. Deshalb sind solche Bücher auch so langweilig. es Denn es kann gar nicht gelingen, im vermeintlich Kleinen des Dorfes die großen Fragen zu sehen, die letztlich jeden Menschen beschäftigen. Mit Richard Russo kann man sagen: „There is so such thing as a small live“. Die Protagonistinnen der Beststellerlisten sollten es beherzigen.
David Emling
Nr. 37 der Wortschau hat auch einen Emling gewonnen… (http://www.wortschau.com/Hefte/)
Hier ein Auszug : Fenster
Das Licht war noch aus, sie stand im dunklen Schlafzimmer. Blickte durch das Fenster auf die vom Regen glänzende Straße, dahinter die Bäume wie eine schwarze Wand. Der Blick, der am Horizont endete und doch darüber hinauswollte. Unzählige Male war sie dort mit dem Kinderwagen unterwegs gewesen, sah ängstlich in die Kinderschale, ob ihr Junge endlich schlief. Kurze Momente der Ruhe, bevor es wieder von vorne losginge, der Zyklus von Stillen, Wickeln, Schlafenlegen und dazwischen versuchen zu leben. Nach den zermürbenden 19 Stunden, die sie gebraucht hatte, um ihn zur Welt zu bringen, hatte sie verstanden, dass sie nicht wusste, wie es weitergehen würde, nun, da er wirklich da war. Das ist ganz normal, das kommt schon noch, hätte ihre Mutter gesagt. Wie gerne hätte sie sie ein letztes Mal gefragt, wie man werden kann wie sie. So aber sah sie Abend für Abend in das Bettchen und wusste nur, dass sie etwas zu fühlen hatte, das nicht da war.
Jetzt machte sie das Licht an, sah nochmals durch das Fenster, erkannte aber nichts, nur Umrisse ihres Spiegelbildes. Sie nickte der verschwommenen Gestalt im Fenster zu. Es war so weit.
***
David Emling
Das Web ist eine wundersame Welt. Unverhofft stößt man auf wundersame Unterwelten. So wie vor einiger Zeit Fanny Tancks „Tanckstelle“ auf Youtube *. Heute mal wieder so etwas: weil nicht jeder auf unseren Blog wartet oder verzweifelt danach sucht, haben wir Werbung gemacht. Zuerst Facebook, dann Google mit interessanten kleinen Erfolgen. Wer unsere Werbung sieht, kann uns anklicken. Das Blogsystem erkennt nun, über welchen Link solche Klicks kommen (wer das ist, bleibt uns zu Recht verborgen). Ein solcher Verlinker ist startpage.com, ein „diskrete“ Suchmaschine, so die Eigenwerbung. Könnte ein Versuch wert sein, wenn ich mal Zeit habe und die Tracker nachmesse. Ein richtiger Hit ist jedoch achgut.com, die „Achse des Guten“ (in Erinnerung an Bushs „Achse des Bösen“), worüber ein paar Dutzend uns gefunden haben. Die haben auch nicht auf uns gewartet – Spoiler: einer der Hauptmacher ist ein gewisser Herr Broder, bei dessen Nennung genau die Richtigen sofort nach Bullrichsalz oder heftigerem greifen. Bisschen herumgestöbert, erscheint mir eine Sternseite zu sein: oben, unten, halblinks, halbrechts, rechts, links, nach vorne, nach hinten einen scharfen Zacken. Eine voll multidimensionale Sache ist das. Wenn die eine dort mir auf den Keks geht, lässt der andere mein Herz aufgehen, selbst wenn die Herrschaften hochbürgerlich gestochenes Bildungsdeutsch reden, wie gerade heute in „Indubio Folge 107“, einem allsonntäglichen Podcast. Das macht den gewöhnlichen Pfälzer leicht unkomod (kann ich auch, das hochgestochene uraltmodische Deutsch). Spoiler II: dieser Podcast kann nicht nebenbei gehört werden.
Damit lasse ich es bewenden, vielleicht machen Fanny und die Achse anderen eine Freude in diesen coronösen Tagen.
Philipp Frankfurter
*https://www.youtube.com/channel/UCeEiUb9cE-Zdhtd23Gh5QHA/featured (bei uns am 3. Dezember 2020)
Robert Habeck ist in der falschen Partei, denn er sagt: „… ist der Begriff „Klimaschutz“ eigentlich falsch. Das Klima ist, wie es ist. Viel präziser wäre es, von Menschheitsschutz zu reden.“ (S. 321) Ob die Grünen ihn nach so einem Satz noch haben wollen können? Welche ansehnliche Partei könnte heute wagen, so einen als Mitglied zu haben? Sei’s drum.
Die Frage ist ja nicht nach der richtigen Partei für Robert Habeck, sondern, warum ich seine „politische Skizze“ lesen sollte, wo ich überhaupt keine Ahnung habe, was das für ein Genre ist. Also zuerst einmal mich bilden. Gefunden habe ich: „Eine Skizze oder auch Prosaskizze ist ein für sich stehender, gleichwohl fragmentarischer, absichtlich nicht voll ausgeformter, kurzer Prosatext, der wie flüchtig hingeworfen wirkt. Er kann fiktional oder nichtfiktional sein.“ (https://www.buecher-wiki.de/index.php/BuecherWiki/Skizze).
Nicht für voll zu nehmen, entnehme ich der Definition, gehört zum Kern einer Skizze. Flüchtigkeit, Vergänglichkeit und Oberflächlichkeit drängen sich da bei mir als weitere Begriffe hinzu. Und, wer macht die Arbeit, der Autor oder der Leser? Oder, ist die unvollständig Skizze eine Lebensversicherung gegen die Zumutungen seiner Partei? Egal, wenn das so ist, dann ist Lesen nicht angebracht. Stattdessen passt dazu das Durchblättern eines Skizzenbuches.
Damit kann ich mich auch elegant aus dem voreiligen „ja“ herauswinden, das ich dem Blogadministrator auf seine Frage nach einer Besprechung gegeben hatte. Denn nichts ist unehrlicher als eine schnelle, auf wenigen gelesenen Seiten beruhende Besprechung. Unehrlichkeit passt nicht zur öffentlichen Figur, die Robert Habeck gibt. Deshalb folgt jetzt eine ehrliche ungelesene skizzenhafte Besprechung.
Noch in der Einleitung, S.10, springt mir das Hingeworfene des Textes ins Auge und mein Magen ruft in Vorahnung, was noch kommen könnte, leise nach Bullrich Salz. Robert sinniert über Entscheidungen von Politikern: „Oft genug werden Entscheidungen auch schlicht gar nicht getroffen, beispielsweise als letztes europäisches Land ein Tempolimit einzuführen.“ Keine Angst, ich lasse mich durch das Thema nicht zu einer inhaltlichen Äußerung hinreißen. Mir geht es um einen kategorialen Flüchtigkeitsfehler. Wer über Politik nachsinnt und heftig mitmischt, ist sich mit hoher Wahrscheinlichkeit bewusst, dass keine Entscheidung zu einem Thema zu treffen, eine der schwierigsten und weitreichendsten Entscheidungen sein kann. Soziologen, Gott schütze ihre Sprachfähigkeit, sagen dann, sich zu etwas nicht zu verhalten ist auch ein Verhalten. Punkt. Hier denkt Robert offensichtlich so wie er spricht: zu schnell.
Ja, genau zu schnell sollte man deshalb seinen Text nicht lesen. Beispiel (S.309): „Als Hitler 1933 an die Macht kam, hatte die NSDAP 43,9% – also keine Mehrheit. Aber die Parteien aus dem konservativen Spektrum verhalfen ihr zur Macht“. Innehalten, wie war das damals? Wann wurde Hitler Reichskanzler (ist das damit gemeint „an die Macht kommen“)?
Reichspräsident Hindenburg, so alle Quellen, ernannte Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler. Die NSDAP hatte damals 33,1% Stimmen und 196 Sitze im Parlament (Wahl war im November 1932). SPD 20,4 (121 Sitze) und KPD 16,9% (100 Sitze). Robert bezieht sich offensichtlich hier jedoch auf die Wahl im März 1933, da war Adolf schon an der Macht. Das Unglück war also schon geschehen und es kam nur noch schlimmer, weil u.a. die hundert Sitze der KPD für „ungültig“ erklärt wurden, die SPD völlig alleine stand und die NSDAP deshalb nur einen kleinen Koalitionspartner, die Kampffront Schwarz-Weiss-Rot mit 8% brauchte, um im Reichstag eine Verfassungsmehrheit zu haben. Kompliziert? Ja, so ist halt die wahre Geschichte, nicht die skizzierte.
Gehen wir jetzt dann einfach mal mitten hinein ins politische Geschäft (ab S. 307). Auf zur Macht, dem Herzstück einer jeden Politik, oder ist das Herrschaft? Herr Rezensent, werden Sie nicht kleinlich, wer schert sich schon um so feine Unterschiede, wie etwa bei Besitz und Eigentum, wenn’s dem Argument dient! Schön, dann bleibe ich bei der Macht. „Neue Zeiten brauchen neue Macht“, aha. Das ist eine richtig gute Skizze aus der Werkstatt eines Mächtigen. Feine Zwischentöne, machen nachdenkliche Freude. Die Skizzenschnellschüsse kann man in diesem Kapitel fast leidlos ertragen. Kleines Beispiel für so einen Schnellschuss: „Macht entsteht also aus dem Alltag und durch das Tun bzw. der Bereitschaft und Fähigkeit, etwas zu tun, Verantwortung zu übernehmen. Das Tun erzeugt allerdings eine Hierarchie, sie etabliert einen Unterschied. Es ist eben der Koch, der kocht und nicht der Kellner. Der kellnert ja.“(S. 331)
Es lebe der deutsche Besinnungsaufsatz! Der Gag mit dem Koch und dem Kellner ist abgelutschter Politikjargon. Er unterstellt eine Hierarchie von Koch und Kellner als gegeben. So eine schlichte Argumentation ist eigentlich unter der Würde von Robert. Und auch unter meiner Leserwürde.
Sei’s drum. Hier eine kurze Auflösung: Kellner und Koch, das ist Arbeitsteilung erst mal ohne Hierarchie. Hierarchie, die Möglichkeit, Anweisungen zu geben, bestünde zwischen Oberkellner und Kellner oder Koch und Sous. Ohne Gast ist das alles außerdem wenig sinnvoll. Und da wird es doch erst spannend: Für wen kocht der Koch und wen bedient die Kellnerin? Den Gast, aha. Wer sagt hier wem was und wer macht was? Die Frau Gast sagt dem Kellner was sie bestellt, der Kellner der Köchin, was Frau Gast bestellt hat, die Köchin kocht das, sagt dem Kellner, wenn sie fertig ist, Frau Gast schluckt, wenn sie den Salat sieht und zu guter letzt zahlt Frau Gast die Zeche, die die Kellnerin kassiert.
Wo ist da die Hierarchie von Kellnerin und Koch? Alles implizit gedacht: ist der Koch auch Eigentümer des Lokals? Oder ist das die Kellnerin? Oder sind beide Eigentümer? Oder nur Angestellte von wem? Wer erhält den Reibach?
Übrigens, in der Politik werden die Gäste gerne unterschlagen, also die, die sagen, was gekocht werden soll und auch dafür zahlen, also wir, die Bürger.
Koch und Kellner klingt nach Schröders Einfachsprech. Passt nicht zu Robert. Oder doch, zu Robert Habeck, dem Mächtigen Nuschler.
Zu guter Letzt, warum soll ich Roberts Buch lesen? Nur weil der Administrator mir ein Besprechungsja abgerungen hat? Falsche Frage; das Buch ist kein Buch, sondern eine politische Skizze, hingeworfen, nicht präzise, aber deutlich genug, um zu wissen, Robert ist wirklich in der falschen Partei. Es wird an der Zeit, für Leute wie ihn und mich eine zu gründen.
Philipp Frankfurter
* Robert Habeck, Von hier an anders, Köln, 2021, 22€ gebunden
Es gibt viele Gründe, warum man ein Buch mögen kann. Es ist spannend, unterhält, hat eine tolle Geschichte, regt zum Nachdenken an, ist sprachlich ein Genuss. Es hängt auch viel davon ab, welche Art Leser man ist. Mir scheint darüber hinaus, dass man eines sehr allgemein sagen kann: Ein gutes Buch erzählt zwar „nur“ eine Geschichte, diese weist aber über sich hinaus, thematisiert also nicht nur das, was wir lesen können, sondern immer noch mehr. Dieser Geltungsüberschuss macht ein Buch wichtig, weil es den Inhalt von der Zeitlichkeit (von Autor und/oder lyrischem Ich) ablöst und somit in gewisser Hinsicht zeit-los macht. Es gibt viele Passagen, in denen Andrea Petković das gelingt. Die besten aber finden sich vor allem am Anfang, wenn sie nämlich von ihrer Kindheit erzählt. Dort wird ihre Herkunft zum Schnitt- und Achsenpunkt sowohl ihres sportlichen Eifers und Erfolgs, und gleichzeitig wächst ihre Liebe zu Literatur als Ventil sportlicher Enttäuschungen und zutiefst menschlicher Gefühle.
Zum Beispiel ging ihr Vater zuerst alleine nach Deutschland wollte Geld verdienen, um bald wiederzukommen. Jedoch spitzten sich die politischen Konflikte damals in Jugoslawien immer mehr zu, sodass die ganze Familie 1988 nach Deutschland floh. Sein Tennistrainer-Intermezzo 1986 in Deutschland war der Grund, dass die Familie Petković eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erhielt. Andernfalls hätten sie als Asylsuchende gegolten. Hier wird klar, wie aktuell die Geschichte der Familie ist, und wie zufällig eine Lebensgeschichte sein kann. Vermutlich wäre Andrea als Flüchtlingskind keine große Tennisspielerin geworden – denn ihr Vater hätte in diesem Fall nicht als Tennistrainer arbeiten können. Das gilt für damals wie heute. Vor diesem Hintergrund bekommt Petkovićs Satz eine ganz besondere, zeit-lose Bedeutung: „»Unbefristete Aufenthaltsgenehmigung« und »Arbeitserlaubnis« waren vielleicht nicht die ersten deutschen Wörter, die ich als kleines Kind aussprechen konnte, aber es waren sicherlich die ersten deutschen Wörter, die ich klar als solche erkennen konnte.“
Noch unmittelbarer erfährt man etwas über die junge Andrea, wenn sie beschreibt, wie sie als Kind eingewanderter Eltern sich mit diesem Malus, der natürlich nie einer sein darf, mit und durch Tennis zu befreien suchte. Wie dies oft, sehr oft gelang, manchmal aber auch nicht, und was das mit dem auf dem Platz vor Zorn schreienden Teenager machte. Und wie diese Versuche des Hineinanpassens und Dazugehörenwollens immer wieder zu Situationen führten, die ihr unangenehm und zutiefst fremd waren. Besonders augenscheinlich – ich würde sagen geradezu die Essenz des Buches – ist die Passage, wie sie mit ihren Freundinnen aus gutem einheimischem Hause schwarz in der Straßenbahn fuhr: Sie werden eines Tages erwischt, müssen 40 Euro Strafe bezahlen, was Andrea mit Tränen in den Augen und voller Scham und Wut hinnimmt, ihre Freundinnen hingegen nahezu unberührt lässt. Wie sie über Wochen die 40 Euro zusammenspart, vor allem aber zuhause immer die erste am Briefkasten ist, um den Brief mit der Strafzahlung vor ihren Eltern abzufangen. Wie sie es schließlich schafft und ihre Freundinnen später fragt, wie sie es angestellt hätten, die 40 Euro zusammenzubekommen. Und wie diese Andrea völlig ungläubig anschauen und in nüchternem Ton feststellen, dass ihre Eltern es eben bezahlt hätten.
Besonders gelungen ist diese Stelle deshalb, weil Andrea Petković sie mit großen Werken der Literaturgeschichte geschickt verknüpft, in diesem Fall mit Philip Roths „Goodbye Columbus“, in dem es viel um Tennis auf und neben dem Platz geht. „Cocksureness“, bei Roth auf männliche Selbstüberschätzung bezogen, sieht die junge Andrea auch in und an ihren Freundinnen. Die Mischung aus persönlichen Erfahrungen, ganz gleich ob Sieg, Niederlage, Schmerz oder Freude, und die Verbindung dieser Emotion mit Literatur und einem scharfen Blick aufs gesellschaftliche Ganze. Das ist es, was Petkovićs auszeichnet. Ihre Geschichte zu lesen und sich selbst darin zu spiegeln macht großen Spaß und bringt einen innerlich weiter.
Günter Grass, der Mann mit K, argwöhnte, Rezensenten besprächen eher seine Person als seine Werke. Das gehört zum Handwerk. In dieser Hinsicht gefällt mir ihr Buch erst recht. Man spürt Andrea Petković durchgehend im Text, sie ist omnipräsent, weil sie ihr Erlebtes so wunderbar erzählen und darstellen kann. Man ist dabei – auf dem Platz, im Warteraum bei einem wichtigen FED-Cup-Spiel ihrer Freundin Angelique Kerber, stapfend auf den staubigen Straßen Sofias zum Tennisclub neben der noch jungen Andrea, die erst anfängt zu spielen, aber schon so weit weg von allem ist, was sie „zuhause“ nennt. Ja, und überhaupt ist sie schlicht sympathisch. Vor allem aber: Sie setzt sich für Literatur ein. Einen Buchclub zu gründen mutet ja schon irgendwie altbacken an, erinnert einen an amerikanische Serien der 80er und 90er, wo ältere Damen wie die „Golden Girls“ ihre Mittwochabende verbringen. Wie aktuell und cool so etwas aber sein kann, vor allem aber wichtig für die Literatur selbst, zeigt Andrea Petković nahezu täglich, wenn sie postet, welche Bücher gelesen werden. Und noch etwas macht sie so nahbar: dass trotz aller Erfolge ein sehr nachdenklicher Mensch vor uns steht, der seinen Platz im Leben sucht und damit nie aufhören wird, ganz gleich, ob er für eine kurze Weile gefunden wird.
David Emling
* Andrea Petković „Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht“, Kiepenheuer & Witsch, 2020, ISBN: 978-3-462-05405-7
Andrea Petkovićs Buchclub gibt’s auf Instagram: https://www.instagram.com/racquetbookclub/Petković
Ochsenglubschaugen
Vielleicht kennst Du das, Deine Freundin kuschelt sich in der Öffentlichkeit an Dich. Was machst Du dann? Zurückkuscheln? Also ich, und das was ich so in meinem Umfeld an männlicher Reaktion sehe, mache eine versteifte Wirbelsäule und stieren Blick nach vorne, eben Ochsenglubschaugen. Warum wenden wir uns ihr nicht zu? Gilt Zärtlichkeit als unmännlich? Was soll die Kälte? Was ist peinlich daran, geliebt zu werden und zurückzulieben? Mist, wie oft habe ich versäumt, das Kuscheln zu genießen und jetzt ist es vorbei. Was mir bleibt ist die Trauer, wenn ich wieder mal einen mit Ochsenglubschaugen und dran hängender Frau sehe.
Nummer Zwei
Hello Blues, hello good old times. Ist es ein Frevel, die Nummer Eins sein zu wollen? Ruf mich an, wenn Du magst oder lass es. Bitte mich um etwas, wenn Du es willst, ohne Bitte gibt es nichts. Siehst Du, es geht doch! Ist das nicht eine wunderbare Erfahrung, angerufen zu werden? Sind die Wörter ‚kannst Du bitte‘ ein Balsam auf Deine Seele oder was willst Du? Ah, die Nummer Eins ganz alleine sein. Aha. Man möge sich auf mich konzentrieren und mich alleine, also mich, mich, mich, mich, mich. Pass auf, gleich kommt das Alter Ego wieder um die Ecke, ganz ohne Furcht und pinkelt mich an, dieser Sauertopf. Greif ich mal in meine Körpererinnerungen. Reichlicher Vorrat an Nicht-nummer-eins-erinnerungen. Am schlimmsten nicht die Rivalen, sondern der Erzrivale Arbeit, ein gar garstig gieriger Moloch, bevor ich mich an den wage, erst mal einen Salbeirosmarintee. 36 Jahre habe ich mit ihm gelebt und gelitten. Immer, wenn es schön sein sollte, kam der verrückte Hase aus Alice im Wunderland um die Ecke und rief ‚keine Zeit‘. Dafür war ich die unangefochtene Nummer eins, weil keiner sonst den Job wollte. Und jetzt, wo ich weder eine Nummer noch eine Eins bin, bin ich unzufrieden, wo man mich doch bittet? Darauf einen Schluck Salbeirosmarintee. Vielleicht sind das so komische Merkwürdigkeiten wie mein Ochsenglubschaugenblick aus männlicher Peinlichkeit heraus? Pietistische Reste der Antisexualität gegenüber der Frau und mir Mann? Vergiss es, einfach nicht bekämpfen, sondern laut herausschreien, dass es ein mieses Unglück ist, so in sumpfigen Ideen verfangen zu sein, so verblendet, so ungeschickt das Glück zu sehen. Mein Körper schreit nach neuen Erinnerungen. Let’s dance in the Palatinate.
David Emling & Philipp Frankfurter
Auszug aus Respekt oder Keine Arschlöcher Mehr! – 2020 Preprint
Als Philosoph müsste ich Ferdinand von Schirach beinahe dankbar sein, dass er moralische Zwickmühlen auf die Tagesordnung der deutschen Pseudo-Kulturguts-Verwaltung, also des Fernsehens, setzt. Aber eben nur beinahe, denn „die Botschaft hör‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Warum? Weil das jüngste Werk „Feinde“ in seiner Verengung kaum auszuhalten ist. Die Garnierung des Films bzw. der Filme mit Talkshows etc. tut natürlich sein Übriges.
Was meine ich? Zunächst den kruden binären Code, den dessen Erfinder Niklas Luhmann in der Schirach’schen Einfachheit verabscheut hätte. Was soll ein Gegensatz von Recht oder Gerechtigkeit zur Erkenntnis beitragen? Die Verengung wurde in den Zeitungen der vergangenen Woche fleißig kolportiert. Sicher ein Werbeeffekt, dem der Autor ja aber auch hätte widersprechen können. Hat er aber nicht, und so muss ich davon ausgehen, dass er genau auf diesen Gegensatz (der eben mitnichten einer ist) anspielt. Und es bietet sich ja für eine reißerische Story auch an: Eine Entführung (natürlich ein unschuldiges Mädchen), ein Bösewicht, ein guter Cop, etwas überfordert und selbst mit gleichaltriger Tochter, der Tod des Mädchens, dann die Verhandlung mit schmierigen Anwälten; die eben, und das ist die Botschaft, nur das „Recht“ verteidigen, nicht aber auf der Suche nach „der Gerechtigkeit“ sind. Oder, um dem Titel Rechnung zu tragen: sowohl Anwalt und Polizist sind Feinde, aber eben auch Recht und Gerechtigkeit?! Puh, einmal durchatmen.
Glücklicherweise gibt es in der Philosophiegeschichte allerlei Autoren, die sich mit ähnlichen Gedankenexperimenten ähnliche Fragen gestellt haben, so z.B. Thomas Nagel, der überlegt, ob ein verzweifelter Mann, der seine verletzten Freunde retten will, einem kleinen Jungen Gewalt androhen und ggf. antun darf, um dessen verängstigte Großmutter zur Hilfe zu bewegen. Es gibt davon noch reichlich, und deutlicher versierter, komplexer und länger beschrieben und vor allem diskutiert. Aber das wäre ja Arbeit, sich da hineinzulesen. Noch schlimmer aber, und das, liebe Leser, ist die kleine Botschaft hier: Solche Fragen sind einfach sauschwer zu beantworten. Eben weil es ethische Fragen sind.
Zudem: Moralphilosophische Argumentationen sind teils sehr konkret in die deutsche Rechtsprechung eingegangen, z.B. im Anschluss an 9/11. In Deutschland ist es nämlich verboten, ein Flugzeug allein deshalb abzuschießen, weil eventuell Terroristen es gekapert haben. Warum? Weil alle Insassen einzig als Mittel zum Zweck missbraucht würden – im Grunde genau die Argumentation eines gewissen Immanuel Kant. Ist das nun Recht, oder Gerechtigkeit, richtig oder falsch? Auch das ist schwer zu beantworten, nur eines ist klar: Eine moralphilosophische Haltung ist eindeutig ins deutsche Recht eingegangen.
Ferdinand von Schirach selbst sagte neulich, dass er anders als die meisten Zuschauer abstimmen würde (das ist ja so ein Gimmick seiner Stücke, diese Abstimmung anschließend) und eindeutig das Recht bevorzugt. Die Botschaft dieser Aussage ist: Ich gebe nicht meinen Instinkten nach und halte mich an das Recht. Moralischer Instinkt hier, Recht dort – wieder die Dichotomie, die es nicht gibt. Umso trauriger ist es, dass er damit dem Recht einen Bärendienst erweist, indem er es vermeintlich ethisch „richtigen“ oder zumindest „verständlichen“ Handlungen gegenüberstellt – und es damit massiv diskreditiert, statt es zu verteidigen. Den komplexen Zusammenhang zu beschreiben ist aber natürlich schwere und Arbeit, die sich leider so gar nicht mit billiger Effekthascherei und Talkshows am Sonntag Abend verträgt.
David Emling
Was Schreiben heute bedeutet? Es ist ja nicht gerade so, dass diese Frage noch niemand gestellt hätte. Als ob es dazu nicht schon genügend Antworten gäbe. Aber vielleicht nur genug ungenügende. Warum sonst sollte jetzt auch noch David Emling das fragen? Nur um seinen Blog zu füllen?
David Emling habe ich in der Darmstädter Textwerkstatt bei Kurt Drawert kennen gelernt. Und schätzen gelernt. David ist nicht der Typ, der fragt, was schon alle gefragt haben, nur weil er es noch nicht gefragt hat. Und doch, so scheint es, hat das Thema ein bisschen diesen Geruch. Oberflächlich gerochen.
Was Schreiben heute bedeutet, weiß ich nicht. Interessiert mich auch nicht. Was David Emling Schreiben bedeutet oder Kurt Drawert, gestern, vorgestern oder morgen und von mir aus auch heute, das interessiert mich schon. Warum sie schreiben. Warum ich schreibe. Grundsätzlich, generell und überhaupt. Oder ganz konkret was. Und warum. Und warum gerade das, was, usw.. Das riecht nach frischer Erkenntnis.
Warum ich schreibe? Ich weiß, warum ich heute schreibe. Heute, an diesem trüben, nassen Dezembermorgen, dem Tag 0 vor dem Tag 1 der neuen Lockdown-Zeitrechnung. Ich schreibe, weil David mich gefragt hat. Und weil ich noch keine Lust habe, mit meinem Tagesgeschäften anzufangen. Die auch was mit Schreiben zu tun haben. Auftragsarbeiten. Die nix mit mir zu tun haben. Außer dass ich mit ihnen zu tun habe.
Aber warum schreibe ich, wenn ich schreibe, ohne einen Auftrag zu haben? Was treibt mich an? Wer oder was ist mein innerer Auftraggeber?
Warum schreibt ihr? Kurt Drawerts Frage auf einem Textwerkstattseminar an einem trüben Novemberwochenende in einem ähnlich trüben Seminarhotel. Klar, diese Frage gehört zum guten Geruch eines jeden Schreibseminars. Riecht nach Besinnungsübung. Schreibt es auf, sagte Kurt Drawert, ihr habt Zeit bis zur Kaffeepause. Und wir Textwerkstättler schrieben. Ich schrieb:
„Warum ich schreibe, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Trotzdem schreibe ich ziemlich viel, in der Summe, in der Rückschau betrachtet. Die Menge liegt möglicherweise an der Themenvielfalt, die Themenvielfalt möglicherweise daran, dass ich gar kein Thema habe. Jedenfalls kein bestimmtes lebensbegleitend existenzielles, das nach Aufarbeitung schreit. Möglicherweise steckt es ja noch zu tief im Inneren, so dass ich den Schrei nicht höre, nicht hören kann oder nicht hören will. Vielleicht komme ich also der Sache näher, wenn ich darüber nachdenke, was mich spontan zum Schreiben impulsiert.
Lust an der Sprache, Lust am Sprachwitz, an der Verfremdung, minimalinvasive Eingriffe ins Buchstabengefüge, die plötzlich einen hintergründigen Sinnkontext offenbaren. Assoziatives, Ironisches. Und immer mit mindestens doppelter, besser dreifacher Bodenlosigkeit.
Lust an der Formvorgabe, je enger, je lieber. Klassische Formen, je komplexer, je ehrgeizweckender. Ein Namensanagrammgedicht z.B. führt mich in einen zwischenbewussten Trancezustand, schaltet alle Synapsenampeln auf grün.
Lust an der Verdichtung, Minimalisierungen, Pointierungen. Kurzfassungen, das, wozu mir in der mündlichen Kommunikation zumeist die Disziplin fehlt. Oder die Disziplin zumindest kleiner ist als die narzisstische Neigung zur Selbstinszenierung. Entschuldigung, ich hatte nicht genügend Zeit, mich kurz zu fassen. Erich Kästner. Eines meiner seiner Lieblingszitate, nach diesem: Der Abend begann um halb acht. Als ich um halb elf auf die Uhr sah, war es halb neun. Ich hasse Lageweile. Außer wenn ich mit mir alleine bin.
Letztlich kommentiere ich lieber, bleibe damit außen vor. Und das ist dann doch vielleicht die Spur, die zur Innerlichkeit führt. Ich hatte nie das Gefühl, wirklich dazu zu gehören. Eine Not von frühster Kindheit an, aus der sich möglicherweise eine Tugend entwickelt hat. Die Not gibt es nur noch in meinen nicht sprachspielerischen Gedichten.
Ich schreibe nicht wg. des Prozesses, sondern für das Produkt. Und ich schreibe nicht für mich selbst. Aber möglicherweise passt diese Aussage genau an dieser Stelle nicht mehr: Ohne das Wissen, dass ein Dritter oder viele Dritte meine Texte lesen, würde ich sicher nichts schreiben. Was vielleicht auch nicht mehr stimmt. Auch nicht zur Bereicherung meiner Therapieakte. Was ganz bestimmt stimmt.
Schreiben ist die Ermöglichung eines ungleichzeitigen Dialogs. Gleichzeitig beginnt beim Schreiben mein Dialog in mir mit mir selbst. Und könnte gerade jetzt spannend werden.
Doch da kommt Kurt und es gibt Kaffee.“
Mein Kaffee im Hier und Jetzt ist kalt geworden. Und es gibt Kaffee auch nicht, ich muss mir einen machen. Das ist weiter kein Problem. Aufstehen, Kaffeetasse unterstellen, Knopf drücken.
Kaffee riecht nicht, Kaffee duftet nach frischer Erkenntnis. Draußen wird es langsam heller. Die Straßenlaternen sind ausgegangen. Und mir die Muse. Ich bin nicht mehr geneigt zu schreiben, was ich nicht muss. Die Pflicht ruft. Ich weiß noch nicht genau, was ich schreiben werde und nur ein bisschen, wie ich es anfange, aber ich weiß worüber. Und somit, was mir das Schreiben heute bedeutet.
Ich bin, also schreibe ich.
© Michael Hüttenberger – 20201215
Ich schreibe, damit die Leser das vor sich haben, was ich hinter mir habe. Nie habe ich verstanden, wie man Stephen King als Nachtlektüre genießen kann. Ich mag mich nicht gruseln, das Leben ist gruselig genug. Aber wenn es denn schon Leute gibt, die sich noch vor Mitternacht voller Schauer über das grimmige Leben Texte reinziehen, warum dann nicht meine? Also schreibe ich, was mich bedrückt, was mir auf der Seele liegt. Ich schreibe es mir von der Seele und werfe es denen, die nichts zu bedrücken scheint, zu ihrer Wollust hin. Dann habe ich es hinter mir bis zum nächsten Mal.
Philipp Frankfurter
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