Wie der gebildete Mensch weiß, ist jede Messung mit Ungenauigkeit verbunden. Je nach Verwendungszweck nehmen wir deshalb angemessene Messgeräte. Ein Fieberthermometer eignet sich nicht, die Kochtemperatur zu messen, mit einem Faltmeterstab kann man bauen, aber für die Computerplatinen ist er zu grob.
So weit so gut. Schauen wir uns mal die Wahlprognosen an (verschämt werden sie auch „Projektionen“ genannt). Sind wir nicht überrascht, wie genau die so oft sind und maßlos enttäuscht, wenn sie voll daneben liegen? Was ist da bloß los?
Wahlprognosen werden auf der Basis von Umfragen gemacht und die haben eine begrenzte Genauigkeit. Gerne behaupten die Prognostiker, es gäbe eine Ungenauigkeit von +/- 3%. Das ist Lehrbuchhokuspokus. Diese Zahl ist aus dem Lehrbuch der Statistik gegriffen, wo über ideale Bedingungen für Stichproben nachgedacht und die wissenschaftliche Grundlage dafür gelegt wird. Das ist dann der sogenannte „Stichprobenfehler“.
Im Umfragealltag spielt dieser jedoch die kleinste Rolle. Er lässt sich relativ einfach berechnen, deshalb wird er genannt. Die Summe aller Fehlerquellen ist dagegen extrem schwer zu benennen, aber die entscheidet letztlich über die Genauigkeit der Prognose. Zu den Fehlern gehören u.a.: falsche Person befragt, Interviewer trägt falschen Wert in Fragebogen ein, Befragte verstehen Frage falsch, die Frage selbst ist Quatsch, beim Übertragen der Fragebögen in Dateien werden Fälle verwechselt, beim Überprüfen der Daten werden diese mit nicht zutreffenden Werten überschrieben und so weiter und so fort.
In der Praxis bedeutet dies, dass der „reine Stichprobenfehler“ auch nur erlaubt zu sagen: „zwischen 11 und 17 Prozent wählen SPD oder AFD“ und „zwischen 15 und 21 Prozent wählen Grüne“, was zusammengefasst bedeutet: es ist sehr wahrscheinlich, dass es statistisch gesehen keine Unterschiede zwischen den drei Parteien gibt.
Und dennoch wird das veröffentlicht und veröffentlicht, und oft trifft das dann auch im Wahlergebnis (wo gezählt und nicht gemessen wird) zu. Rein statistisch gesehen kann das nicht sein (es gibt genügend wütende Polemiken von Statistikern darüber. Wahrscheinlich, weil sie ihre Wissenschaft missbraucht sehen.)
Wie so oft im Leben, wenn die wissenschaftliche Erkenntnis nicht ausreicht, hilft uns die Technik aus der Patsche, indem der reine Zufall (Statistik) ergänzt wird um praktisches Lebenswissen (Empirie, Wahlgeschichte). In einem anderen Blog werde ich beschreiben, was da alles dazwischen kommen kann. Aber hier soll es beim Lob der Umfragetechniker bleiben, die unglaublich genaue Prognosen erstellen können.
Ob die dann veröffentlicht werden, steht auf einem anderen Blatt, das ich jetzt aufschlagen will. Umfragetechniker sind im Allgemeinen vorsichtige Leute, die Ihre Ergebnisse mit vielen Fußnoten einordnen. Veröffentlicher von Umfrageergebnissen sind im allgemeinen Aufmerksamkeit heischende Nachrichtenschreier. Eine Nachricht, AfD, SPD und Grüne liegen in Umfragen ununterscheidbar nebeneinander, hat nur begrenzten Nachrichtenwert. Ok, damit könnte man leben, wenn es nicht die andere Seite gäbe: die Räuberpistolen über den Wahlsieg einer Gruppe, obwohl man nix Genaues weiß und nur viele Herumrechnereien einem das vorgaukeln. So geschehen zuletzt beim Brexit und Trump, früher bei einer britischen Wahl. Das ist unzulässige Wahlbeeinflussung. Punkt. Genauso schlimm sind die ewigen Kopf-an-Kopf Rennen. Denken Sie mal nach, wie oft das in den letzten Jahren das Dauerthema einer Wahlberichterstattung war. Wenn es nicht zwei Parteien sind, dann wenigstens zwei Parteienblöcke, und seien die so tolldreist zusammengesetzt wie man sich das denken kann. Hauptsache Kopf-an-Kopf. Öde auf die Dauer, nicht wahr.
Was machen als Konsument? Verzicht auf Räuberpistolen-Wahlprognosen? Igitt, schon wieder Verzicht, Nein! Genießen wir die müden Anstrengungen, müde Wahlen munter zu machen. Wählen wir die, die wir wollen und freuen uns, wenn sie gewinnen. Und wenn dann die Prognosen doch zutrafen, ein Prosit auf die Wahlforschung!

Peter Mohler