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Wilder Südwesten

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Menschenmaterial im Öffentlichen Dienst

Ja, das Unwort des 20. Jahrhunderts hat eine Klause im Öffentlichen Dienst gefunden. Historiker sagen, es sei schon immer dort besonders gerne verwendet worden, vor allem im Militärischen. Die Bürokratie hat so einen Hang zur Sache, dem alles Menschliche fremd ist. Nur ihr sind Bedarfe gängig und Bedürfnisse nur als Anstalt denkbar.
Die beobachtbare Distanz zum Menschlichen erschleicht sich die Vorstellung Menschen als Sachen zu sehen, eben Menschenmaterial. Damit verbunden ist eine Art Einfühllosigkeit, die sich im britischen Ratschlag an frierende Rentner „doch Mützen zu stricken“ oder im deutschen an fröstelnde Gemeinderäte „in Corona-Zeiten Decken zur Sitzung mitzubringen“ zum Gespött macht der zivilisierten Unöffentlichen Dienste, vulgo bürgerliche Gesellschaft.
Insofern steht der Öffentliche Dienst außerhalb oder zumindest neben der bürgerlichen Gesellschaft. Den Bürgerinnen vergeht das Schmunzeln, wenn sie in die Fänge der Bürokratie gelangen. Zur Verteidigung kann man nur anführen, dass die versachlichte nichtmenschliche Sichtweise höchst erfolgreich erscheint und deshalb gerne von großen Organisationen kopiert wird.
Warum? Na ja, wenn man sich mit Sachen beschäftigt, kann man sich Mitgefühl, Fürsorge und Liebe schenken. Es genügt ein Staubtuch und ein Aktenordner. Menschenmaterial braucht keine Führung (was Zuwendung bedeuten könnte). Es genügt Struktur, am besten rechteckige Schuhschachteln, die man beliebig stapeln  kann. Im Land der Schuhschachtler ist Verirren die Regel, besonders, wenn es um Verantwortung geht, da hat Kafka das Wesentliche gesagt.
Und weil es so schön ist, bastelt man immer weiter offizielle Strukturen, informelle Strukturen, strukturiert sich selbst, bis man aktenordnerähnlich wird. Sogar die liebe alte rebellische Korruption wird fein säuberlich multi-strukturell eingefangen.
Warum läuft der Laden trotzdem? Weil nicht alle mitmachen. Was heißt, er könnte viel besser laufen. Genauso rational und versachlicht, ohne Menschen zur Sache zu machen. Nur die Schuhschachteln und die Minimachtpositionen wären in Gefahr. Wären, sind aber nicht, denn die Deutschen und andere sind Schuhschachtelfetischisten ohne Outing, mindestens.

Philipp Frankfurter

Das IT Mysterium des Öffentlichen Dienstes

Corona, versprochen ganz kurz. Wer liest und hört, was Radio, Presse, Fernsehen inzwischen routinemäßig zu den täglichen RKI (der arme Robert) Fallzahlen sich abringen, der braucht über kurz oder lang Bullrich Salz oder gar einen Protonenpumpenhemmer (wer googelt, bei dem macht es gelegentlich Bing).
Lange dachte ich, die tägliche Coronawasserstandsmeldung sagt mir, wie viele Leute heute im Unterschied zu gestern positiv auf Corona getestet wurden – ok, mit dem Problem, der über längere Zeit sich ändernden Zahl der Testungen – aber das sollte von Tag zu Tag keine Rolle spielen. Nein, liebe Leute, das stimmt so nicht, das wäre ja zu einfach. Wie das RKI sagt, berichtet es jeden Tag „Fälle, die dem RKI täglich übermittelt werden. Dies beinhaltet Fälle, die am gleichen Tag oder bereits an früheren Tagen an das Gesundheitsamt gemeldet worden sind“ – macht es jetzt bei Ihnen Bing?
Klartext: Berichtet wird die Zahl der täglich abgegebenen Meldezettel von Gesundheitsämtern, egal, wie lange die auf dem Dienstweg hängen geblieben sind.
Für den einfachen Tagesvergleich taugen solche Zahlen schlicht nicht. Deshalb winden sich die Medien so sehr, wenn sie den täglichen RKI-Wasserstand berichten.
Und damit sind wir beim Thema, dem IT-Mysterium im Öffentlichen Dienst (It ist ein linker Nebenfluss der Wolga. IT ist nicht die Abkürzung für Intelligente Technik, sondern Informationstechnologie, steht aber auch für den Killer-Clown Pennywise bei Stephen King’s „IT“, dem Bösen schlechthin…). Während sich die große weite Welt wie Coca Cola, Wells Fargo, BMW oder Peters Musikzimmer auf etablierte IT-Anbieter verlässt (ORACLE, SAP, Microsoft, AMAZON, SPSS, SAS, WordPress, Strato, Microsoft Office, Open Office u.v.a.m.), hatte der Öffentliche Dienst immer ganz besondere Problemchen, die ein eigenes Progrämmchen dringend notwendig machten und machen. Am besten hausgemacht (selbstgestrickt). Bekanntlich dauert Handarbeit lange, oft fällt eine Masche herunter oder die Hände verkrampfen. Und jeder Handstricker in jedem Öffentlichen Diensthäuschen hat natürlich sein eigenes Muster, das er nur ungern mit anderen Diensthäuschen teilt. Ergebnis: Jahrelang wartet die Polizei auf einen deutschlandweiten abhörsicheren Digitalfunk. Und wir warten heute auf eine vernünftige, handzettelfrei Corona Statistik. Und bitte…fordern Sie nicht lauthals Markus Söder, der kann es genauso wenig.

Philipp Frankfurter

Ehrenamt und Inkompetenzvermutung

Wen die Wähler in ein Amt wählen, dem geben sie auch den Verstand mit. Denkste. Während im gewöhnlichen Leben jeder zeigen muss, dass sie den Job kann, oft sogar noch dafür geprüft wird, reicht beim üblichen politischen Wahlamt, sagen wir Bürgermeister von Dorf bis Millionenmetropole, das richtige Geburtsdatum und das war es dann.
So schauen uns dann mehr oder weniger gestylte Gestalten von den Wahlplakaten an, die versprechen alles, nur nicht ausgebuffte Verwaltungsarbeit. Halt, was soll das mit der „Verwaltungsarbeit“ bedeuten? Noch nicht gewusst: Bürgermeisterinnen und auch Gemeinderäte sind Teil der Verwaltung und was macht die? Genau: „Verwaltungsarbeit“. Dort gilt zum Beispiel der Grundsatz „wer schreibt der bleibt“. Der andere heißt „lesen statt hörensagen“. Wer sich umschaut bzw. öffentlichen Sitzungen von Gemeinden beiwohnt, glaubt oft nicht richtig zu hören, weil praktisch keiner die Vorlagen geschweige denn die notwendigen Gesetzestexte gelesen hat. Erste Vermutung: die Zahl der Analphabeten im Ehrenamt ist gewaltig. Kann das sein? Wer weiß. Sicher ist, keiner verlangt irgendeine Anstrengung von den Amtsträgern, sich in die Materie einzuarbeiten, von Fort- und Weiterbildung darf man gar nicht reden. Das gilt, obwohl die Zahl der Angebote Legion ist. Aber überlaufen sind die garantiert nicht.
Was bleibt, ist der Frust professioneller Verwalter über inkompetente Wahlämtler und die Verzweiflung der Bürger über deren Mittelmäßigkeit. Und jetzt bitte nicht mehr wundern, warum so vieles auf kommunaler Ebene steckenbleibt. Da war doch was mit der Wissensgesellschaft….
Philipp Frankfurter

Institutionen sind nicht resilient

Wo ist die Sowjetunion? Hoechst? Fort und weg und vergessen.  Nicht so die Menschen in der Sowjetunion oder Arbeiter von Hoechst. Sie haben das „Abschalten“ eines Staates oder einer Fabrik überlebt, so wie viele Menschen schwere und schwerste Erlebnisse überleben, weiterleben, sogar vorwärtskommen. Das ist soweit nichts Neues.
Warum erwähne ich das hier und heute? Weil der Lockdown ein Institutionenkiller ersten Grades werden kann, wenn nicht schon ist. Wird es noch mal Martinsumzüge geben? Wird sich nochmal eine Gruppe aufraffen den örtlichen Gesangsverein wiederzubeleben? Findet sich jemand, der die kleine Kneipe übernimmt? Verlieren sich Freundschaften und Bekanntschaften im Coronanirwana?
Und dann die Kultur, das Sparschwein der Politik. Immer wenn man zu viel Geld für Pomp und Unsinn ausgegeben hat, wird an der Kultur gespart. Egal, wie viel Mühe und Kraft es gekostet hat die ganz kleinen, größeren und ganz großen Kulturinstitutionen auf die Beine zu stellen und jahrzehntelang prosperieren zu lassen.
Leute passt auf, das kann ein neuer kultureller Todesreigen werden, nehmt das bitte ernst.
Philipp Frankfurter

No identity, stupid!

Es ist zu einfach, um wahr zu sein: Über 73 Millionen Wähler gaben Joe Biden ihre Stimme, so viele wie noch nie in der Geschichte der USA. Ein deutlicher Sieg sowohl in den absoluten Stimmen als auch bei den Wahlleuten, wohl über 300 (vielleicht sogar 306, genau jene Zahl von Trumps „Triumph“ vor vier Jahren; wäre keine schlechte Ironie). Die Demokratie hat zurück geschlagen, sich gewehrt gegen Populismus oder „Trumpismus“ (gibt es davon eine Definition, und wenn ja, wie viele?!) Dazu kommt, dass linke „Identitätspolitiker*innen“ (auch hier, Definition…?!) wie Alexandria Ocasio-Cortez, Rashida Tlaib oder Ayanna Pressley ihre Sitze im Repräsentantenhaus verteidigt haben. Alles gut, wir sehen, die linke Wahrheit ist endlich auf dem Durchmarsch, sogar in den USA.

Wären da nur nicht die paar Stimmen für Donald Trump. Mindestens 69 Millionen, wahrscheinlich mehr. Joe Biden also ist der Präsident, der die meisten Stimmen jemals bekam. Kurz dahinter liegt Donald Trump nach einer, sagen wir, sehr turbulenten Amtszeit. Es gibt sie also, die Trump-Fans, mehr denn je. Vor allem aber gibt es noch etwas: Junge Menschen, Schwarze, Latinos und Frauen, die ihn gewählt haben, und zwar auch ohne seine Fans zu sein,  einfach, weil die demokratische Alternative nichts für sie war. Mist, schon ist die schöne Erzählung gesprengt, und mit ihr die sogenannten Lehren, die wir aus dieser Wahl ziehen können. Ich bin sicher, die Erklärungen dafür lagen schon lange in den Schubladen der Parteizentralen über den Globus verteilt, zum Teil wurden sie auch  in einem euphorischen „die Demokratie schlägt zurück“ Ton veröffentlicht. Nur – diese Erklärungen  passen eben nicht. Die USA sind, bleiben (und vor allem: waren schon immer) ein gespaltenes Land. Fliegen Sie mal, wie ich es mal getan habe, vom kalten New York ins warme San Diego – Eis und Schnee allenthalben, nach sechs Stunden Flug (sechs!) ist man noch immer im gleichen Land, aber mit Palmen und Sonne erwartet einen ein anderes Leben (von der Pampa in Wyoming oder der Natur Alaskas ganz zu schweigen). Das ist wahrlich nicht einfach zusammenzubringen, vielleicht auch gar nicht möglich.

Was also tun? Vielleicht, ausnahmsweise, gar nichts. Froh sein, wie die meisten, dass es dieses Mal ein pragmatischer und erfahrener Politiker (und tatsächlich Politiker, nicht Entertainer) geschafft hat, Präsident zu werden. Hoffen, dass er einige gute Projekte durchbekommt. Aber nicht meinen, dass nun auch der letzte Amische in Pennsylvania verstanden hat, dass die moderne Identitätspolitik, angeführt von demokratischen Sozialist*innen, endgültig gesiegt habe. Es könnte in vier Jahren ein böses Erwachen geben, mit einem dann 78-jährigen Präsidenten. Republikaner. Sie wissen schon, wen ich meine…

David Emling

Die Grenze im Kopf oder was unterscheidet den Elsässer vom Gälfiesler?

Sagt der eine Freund, ein Kollege sei von seiner Firma 14 Tage nach Hause geschickt worden, obwohl er negativ auf Covid getestet sei. Ok, die Firma ist halt sehr vorsichtig. Warum nicht.
Sagt der andere Freund, bei Ihnen dürften die Elsässer nicht mehr kommen, wenn sie in „systemrelevanten“ Abteilungen arbeiteten. Und wer arbeitet denn dann bei Euch in Karlsruhe? Aja, die Leute aus Durlach, Gaggennau, dem Bahnofsviertel und so weiter.
Frage, was unterscheidet coronamäßig Karlsruhe (Gälfieslerland, wie die Pfälzer sagen) vom Elsass? Glaubt man den Risikowarnungen: nichts. Karlsruhe und Umgebung ist tiefrot, das Elsass auch. Waschen die sich im Elsass nicht die Hände? Tragen die keinen Mundschutz? Gibt es keine Tests? Dürfen die Pendler überhaupt kommen? Ja, die dürfen.
Zur Hölle mit dieser verdammten Grenze im Kopf sagt der linksrheinische zum rechtsrheinischen. Etwas grober gesagt: das ist Fremdenfeindlichkeit 4.0
Philipp Frankfurter

Kopfarbeit und Wahlprognosen

Und wieder ist es passiert. Wieder hat die amerikanische Umfrageforschung in einer wichtigen Wahl entscheidende Veränderungen in der Gesellschaft verpasst: Florida!
Wie gesagt, wer umfragt, kann irren, aber bitte nicht schon wieder, stöhnt der geplagte Bürger.
Zur Verteidigung wird vorgetragen, die „Modelle“ seien verbessert worden, man habe auch verstärkt auf „Bildung“ geachtet, aber es habe nicht gereicht. Das reicht nicht.
Was kann ich zur Verteidigung der Umfrageforschung vorbringen? Denn sie funktioniert. Immer dann, wenn sie ihren Kopf einschaltet, Lehrbuch nur als Grundlage, nicht als Bibel verwendet und dazu noch die Glaceehandschuhe aus- und die Gummistiefel für die Feldarbeit anzieht („Feld“ war der Fachbegriff für das Abklappern von staubigen Straßen und Gassen, um Bürgerinnen zu befragen – heute ist das alles elektronisch steril). Oder wie Luther dem Volk aufs Maul schaute, also anstelle von „Probanden“ Menschen um Mithilfe bei einer Umfrage zu bitten.
Weil’s im Lehrbuch steht, wird immer und ewich (ja mit ch) geschaut, wie Geschlecht, Alter und Bildung als „Verursacher“ einer Meinung, Werthaltung oder gar Handlung befragter Menschen funktionieren („demographische Merkmale“). Das ergibt oft Sinn, vor allem dann, wenn es gute Gründe für die Annahme der Wirkung von Alter auf ein Verhalten gibt (z.B. unterschiedliche Formen der abendlichen Betätigung). Noch viel öfter ergibt das keinen Sinn mehr, weil alte festgefressene Sozialstrukturen neuen Lebensformen gewichen sind (wie die Konsumstilforschung herausgefunden hat).
Und dann gibt es noch etwas. Was, wenn sich hinter so einem demographischen Merkmal mehr als nur eine Gruppe verbirgt? Dazu gibt es ein amerikanisches Beispiel: Zu den üblichen verdächtigen demographischen Merkmalen gehört in den USA das klebrige Merkmal „Race“ (oft „Black, White, Latino, Other“). Zur Freude der Routiniers liefert das Merkmal „Black“ fast immer schöne Unterschiede zu „White“. (Empfehlung der Redaktion: bevor Sie weiterlesen, genehmigen Sie sich einen Schluck der ehemaligen Whiskeykultmarke). Bereit?
In den üblichen Umfragen von 1.000, 2.000 Teilnehmern sind nicht genügend „Black“, um diese Gruppe detailliert zu betrachten. 1994 aber hat der General Social Survey (kann man googeln) extra mehr „Black“ gesucht und gefunden, um etwas genauer hinschauen zu können. Da hat man dann u.a. auch gefragt “When you think of social and political issues, do you think of yourself mainly as a member of a particular ethnic, racial, or nationality group or do you think of yourself mainly as just an American?”  (Kurzfassung: Wenn sie über unsere Gesellschaft nachdenken, tun Sie das dann als Amerikaner(in) oder als Angehöriger einer anderen ethnischen Gruppe?). Da hat es dann richtig geknallt: von den „Black“ antworteten 28%, sie dächten an eine andere ethnische Gruppe, von den „White“ magere 3%. Anders gesagt, ein Drittel der „Black“ Teilnehmer denkt nicht im Sinne von „just an American“. Was machen wir damit?
Wir bilden vier neue Gruppen: „Just American/White“, „Just American/Black“, „Andere White“ und „Andere Black“. So: und jetzt kommt das, wofür Sie, hoffentlich, einen tiefen Schluck „Black and White“ getrunken haben: Untersucht man verschiedene politische Meinungen für jede Gruppe, dann findet man keinen Unterschied zwischen den beiden ersten „Just American“ Gruppen, während sich der Unterschied zu „Andere Black“ erheblich vertieft.
Anders gesagt: Während die „White“ Gruppe sehr homogen zu sein scheint, zerfällt die „Black“ Gruppe in zwei Teile. Der Witz ist, dass die „White“ fast immer so antworten, als seien sie „Just Black“ (Blackwashing?) und natürlich anders herum (Whitewashing). Kurz, der behauptete allgemeine Unterschied zwischen „Afro-Amerikanern und Weißen“ ist eine Erfindung der Umfrageforschung. Dass und warum ein Drittel der Afro-Amerikaner anders denkt, als der große Rest, das, und nur das sollte einem zum Denken bringen.
Was haben wir gelernt? Hinter scheinbar einfachen demographischen Merkmalen verbirgt sich doch komplexere Realität, der man nur beikommt, wenn man seinen Kopf einschaltet, so wie der General Social Survey. Aber dafür ist in der Hektik der Wahlforschung wahrscheinlich keine Zeit. Stattdessen schnitzt man sich lieber ein neues Modell und gibt magersüchtige Prognosen ab. In diesem Sinne bis zur nächsten Wahl.
Peter Mohler

Der Blick durchs Fenster – Editorial

Die Soziologie ist jene Wissenschaft, die den Menschen am ernstesten nimmt. Weil sie am wenigsten über ihn zu sagen hat. Sich am ehesten traut, die Schultern zu zucken und zu sagen: „Keine Ahnung.“ Schon Max Weber wunderte sich, wie so eine Straßenbahn funktioniert und es auch noch schafft, allerlei Menschen zu transportieren. Erving Goffman saß auf den Shetland Inseln in der Hotel-Lobby, sah den Menschen beim Kommunizieren zu, und wunderte sich, dass überhaupt irgendeine Kommunikation funktioniert. Und Niklas Luhmann sprach erst gar nicht mehr vom Menschen, sondern von Kommunikationssituationen, die es zu beschreiben gilt.
Auch wir sind beides Soziologen (aber das spielt ab jetzt keine Rolle mehr), und wollen den Menschen ernst nehmen und fragen: Was wissen wir wirklich? Und was ist nur Gerede? Wir glauben, dass wir mit dem uns eigenen Blick durch die uns eigenen Fenster und Scheuklappen wenig bis nichts erkennen, was in der Welt geschieht. Und dennoch täglich versuchen, das Wenige, was wir wissen können, auch zu finden.
In diesem kritischen und sich zurückhaltenden Sinne lesen Sie hier allerlei darüber, was wir trotz allem versuchen zu verstehen. Und noch mehr, wir schauen auf die, die nicht versuchen zu verstehen, sondern einfach machen – in Politik, Journaille und Wissenschaft.
Ich für meinen Teil kann das, was ich aussagen will, oder genauer – was ich will dass der Leser zwischen den Zeilen selbst herbeiliest – am besten durch literarische Texte ausdrücken. Mein Freund Peter Mohler schafft dies durch Essays. Und unsere Gäste, die wir immer wieder hier begrüßen wollen, auf ihre je eigene Weise.
David Emling

Wer umfragt kann sich irren

Nein, kein Schreibfehler, nein, es soll nicht „herumfragen“ heißen, auch wenn sich die Sache für manchen so anfühlen mag. Mit „Umfragen“ sind gemeint: Techniken zur Feststellung der Anzahl von Meinungen, Wertvorstellungen, Verhalten in der Bevölkerung. Diese Techniken gehören zur Empirischen Sozialforschung, gelegentlich auch als Demoskopie bezeichnet.
Erstaunlich, was diese Technik kann. Dass von 66 000 000 (sechsundsechzig Millionen) Erwachsenen in Deutschland 13 000000 (dreizehn Millionen) nicht an Gott glauben, weiß man mit ziemlicher Gewissheit, wenn man nur 1 000 (tausend) Erwachsene danach fragt.
Hokuspokus? Nein, Wissenschaft, nämlich die von der Stichprobe. Und da hat man etwas Verwunderliches gefunden, was jeder Suppenkoch intuitiv weiß: Die Größe des Löffels zum Probieren hängt nicht von der Größe des Suppentopfes ab. Ob 10, 100 oder 1000 Liter Suppe, der normale Suppenlöffel reicht zum Probieren aus. Es muss nicht die Kelle sein, aber ein Teelöffel reicht dann auch nicht. Irgendwo zwischen Teelöffel und Kelle gibt es eine optimale Probierlöffelgröße, die auch beim größten Topf zuverlässig den Salzgeschmack zu prüfen erlaubt: der Suppenlöffel. Die Prüfung wird nicht besser, wenn wir den Löffel zur Kelle aufblasen. Sie wird nur kostspieliger, weil wir mehr Suppe zum Probieren herausnehmen. Geil, gell!
Für die Umfrage hat man herausgefunden, dass die ausreichende Probiergröße  etwa 1000 Leute umfasst, wenn man die per Zufall aussucht  (https://www.surveymonkey.com/curiosity/how-many-people-do-i-need-to-take-my-survey/)
Und so macht man das dann, theoretisch. 
Praktisch geht das nicht so leicht. Weil, ja weil die Welt kein gut umgerührter Suppentopf ist. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit klebt ein Teil am Boden, ein anderer am Rand, Brocken schwimmen unregelmäßig herum, ein Teil flutscht immer vom Löffel, kurz: Nichts ist homogen oder gleichförmig, sondern bestenfalls geschichtet oder geklumpt. Eine ziemlich trübe Brühe diese Wirklichkeit.
Wieso sagen die Wahlprognostiker dann doch so oft ein Wahlergebnis ordentlich voraus und wieso geht das Geschäft dann wieder mal voll daneben? Im Prinzip ist es wie beim Suppenkochen: die erste glückt oft nicht, mit der Zeit bekommt man Erfahrung und mischt die Zutaten immer besser. Versalzen wird sie dann nur noch im Liebesfall oder durch Schlamperei. So geht das auch bei den Wahlen. Nach 50 und mehr Wahlen in einem Land weiß man, wo die roten, grünen, schwarzen, gelben, blauen und blöden Klumpen sind und korrigiert seine Daten entsprechend. Ein guter Statistiker überlässt wenn nur irgend möglich nichts dem Zufall. Deshalb steckt er alles Wissen über frühere Wahlen in ihre Stichprobe – dass bestimmte Wahlkreise typisch sind, dass alle großen Städte eingeschlossen werden, kein Bundesland vergessen wird und so weiter. Erst ganz zum Schluss, wenn man sich zwischen verschiedenen Haushalten in einer Straße oder einem Stadtteil entscheiden muss, wird gelost. Das nennt sich „geschichtete Stichprobe“ – in ihr ist die ganze Wahl-Geschichte des Landes berücksichtigt. Aber das reicht nicht. Denn an zwei weiteren Stellen kommt die Wirklichkeit der Wahlforschung in die Quere. Die erste sind wir Bürger. Nicht immer haben wir Zeit, uns befragen zu lassen. Also nehmen von 1000 ausgewählten Haushalte nicht alle Teil. Das wäre nicht so schlimm, wenn man ganz einfach diejenigen, die keine Zeit für Umfragen haben, durch solche ersetzt, die Zeit haben. Aber, oh weh, woher weiß ich, ob beide Gruppen das gleiche Wahlverhalten haben? Bis heute gibt es kein allgemeingültiges System, wie man damit vernünftig umgeht. Und wieder sind wir in der Suppenküche: Die erfahrene Köchin greift in ihre Trickkiste (geheim, natürlich) und macht die Suppe essbar, so Gott will. In der Wahlforschung nennt sich das verharmlosend „gewichten“. Wenn das mehr oder weniger gelungen ist, dann kommt dem Forscher das Wahlrecht in die Quere. In Amerika ist das zum Beispiel die von Bundestaat zu Bundestaat unterschiedliche Art die Wahlpersonen (Wahlmänner) zu bestimmen. Bekanntlich hatte Trump bei seiner letzten Wahl 3 000 000 (drei Millionen) Stimmen weniger, am Schluß aber die Mehrheit der Wahlpersonen. In Deutschland sind das die Überhangmandate, die erst nach der Wahl berechnet werden. Damit ist die Zahl der Parlamentssitze vor der Wahl unbekannt. Wenn sich da viel tut, können Effekte wie bei der Trump-Wahl auftreten. Unglaublich, wie die Wahlforschung auch das so oft in den Griff bekommt, es sei denn…
Es sei denn sie stolpert über ihre eigenen Füße, meistens als „Geiz ist geil“ Effekt. Irgendwann mal wurde in England wieder ein Kopf-an-Kopf-Rennen ausgerufen (verkauft sich besser in der Zeitung), wobei Labour mit einer Kopflänge in den Umfragen voran lag (zur Kopflänge kommen wir noch mal am Schluss). Geizig wie die Engländer sind, sparten viele Umfrager es sich, an der Haustür zu klingeln und zu warten bis eine aufmacht. War es doch einfacher die Leute auf der Straße anzusprechen. Dummerweise gingen im Winter weniger ältere Leute auf die Straße. Blöd, dass die eher konservativ wählten. Das gab dann auch eine heftige Bruchlandung für die Wahlforschung. Die Trump-Wahl dagegen war ein Beispiel für gesellschaftliche Veränderungen, die der bisherigen Wahlgeschichte eine andere Wendung gaben. Hier war es nicht nur der Geiz, sondern die festgefressene Borniertheit der Forscher. Sie haben die beobachtbaren Veränderungen „weggewichtet“, anders gesagt, Demoskopen, die den Kontakt zur Bevölkerung verloren hatten, machten sich selber blind.
Um das Wunder der zutreffenden Wahlprognose zu einem Superwunder zu machen, müssen wir uns noch kurz die Pferdekopflängen betrachten. Wie jeder weiß oder gleich wissen wird, gibt es keine absolut „richtige“ Messung. Beim Bau genügt beispielsweise der Faltmeter, beim Computerbau braucht man das Rastermikroskop. In der Umfrageforschung handelt man mit Ungenauigkeiten von 3-5% (sehr hoffnungsvoll, übrigens). Will heißen, dass die eingangs erwähnten 13 Millionen eigentlich plus/minus 650 000 lauten sollte. Oder in Prozenten ausgedrückt: In Deutschland 2018 zwischen 15 und 25 Prozent der Erwachsenen nicht an Gott glauben. Übertragen auf die Wahlforschung bedeutet dies, dass eine Aussage „die SPD liegt 2 Prozent vor der AfD“ bei der bekannten statistischen Ungenauigkeit Unsinn ist.

Fassen wir zusammen: Von der schlichten Idee der Suppenstichprobe bis zur Ungenauigkeit aller statischen Messungen ist es ein weiter, steiniger Weg. Das Superwunder der Umfrageforschung ist: Sie irrte sich relativ selten. Leider zu oft, wenn es wichtig wird.
Peter Mohler

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