Ausgangssperre! Heißes Thema, auf und ab diskutiert. Eine der besten Darstellungen hat die formidable Sibylle Anderl in der FAZ gegeben.* Ihr Fazit: nichts genaues weiß man nicht, insbesondere weil die Frage nach der Wirkung von Ausgangssperren komplexe, umfangreiche Untersuchungen erforderte, die es eben nicht gibt.
Bevor es ernst wird und wir zu schlechten coronösen Datenlagen kommen, eine kleine Episode aus der Geschichte der Seefahrt, berichtet von Dava Sobel**: Seit ewigen Zeiten konnten Seefahrer den Breitengrad, auf dem sie sich gerade bewegten, mit Hilfe des Sonnenstandes sehr genau bestimmen. Das war zwar sehr hilfreich, jedoch wusste man nicht, wo genau man sich auf dem Breitengrad befand. Hässlich, wenn man bedenkt, dass der Breitengrad am Äquator 40.000km lang ist. Da kann man sich schon mal verlaufen. So geschah es auch mit einer britischen Armada, die nach langer Seereise guten Mutes der Heimat zusteuerte. Allerdings war die Sicht nicht gut, eher schlecht und der Wind stark. Auch wenn der Admiral in seine neues Fernrohr starrte, sah er nur grauen Dunst. Dennoch hielt er munter seinen Kurs. Da meldete sich ein erfahrener Maat mit letztem Mut zu Wort. Er meinte, man steuere geradewegs auf Sandbänke zu, der Untergang drohe. Nun wurde bei so freier Rede damals kurzer Prozess gemacht. Der Maat wurde unverzüglich aufgeknüpft und die stürmische Fahrt fortgesetzt. So wurde ihm das schlimmere Schicksal des elendiglichen Ersaufens erspart, das den Rest der Armada einschließlich Admiral am nächsten Tag traf.
Fehlende Daten, hier die Information, an welchem Punkt des Breitengrades die Armada sei, war die Ursache dieses und vieler anderer Unglücke, bis John Harris im 18. Jahrhundert Uhren konstruierte, die sehr genau gingen. Damit konnte man dann den Abstand zum Ausgangshafen genau berechnen oder anders gesagt, der Längengrad konnte so gut bestimmt werden, wie der Breitengrad. Die Datenlage war bereinigt und fast alles wurde gut.
Nach diesem Ausflug in die Geschichte der Seefahrt wird die Leserschaft sicher bemerkt haben, worauf es hier hinausläuft: auch in der Pandemie fehlen entscheidende Daten. Die Admirale steuern munter auf dem bekannten Breitengrad entlang, ohne zu wissen, wo die nächste Untiefe ist. Da ist Schiffbruch sehr wahrscheinlich.
Der Unterschied zum 18. Jahrhundert ist allerdings, dass es keines John Harris bedarf, um die fehlenden Informationen oder Daten zu beschaffen. Die notwendige Technik ist vor mehr als hundert Jahren erfunden worden und wurde seitdem stetig verbessert. Ihr Name ist „Umfrageforschung“. Gerne in der Politik zur Beliebtheitsmessung herangezogen, dagegen argwöhnisch beäugt, wenn es um wichtige soziale Tatsachen, insbesondere die Wirkung politischer Maßnahmen geht. So gab es zum Beispiel zur Wirkung der Umstellung des Sozialsystems genannt HartzIV, keine umfassende, öffentlich finanzierte Wirkungsforschung. Na ja, mit den Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern meinten die Zyniker könne man ja machen, was man wolle. So, aber hier und heute, geht es um uns alle. Ausgangssperre! Und noch viel mehr! Volle Kanne im Blindflug auf die Sandbank!
Deshalb liebe Mitbürgerschaft, schaut Euch doch mal den Daten-Notschrei der empirischen Statistiker an uns alle an: https://www.dagstat.de/fileadmin/dagstat/documents/DAGStat_PI.pdf ***
In einem Satz heißt der Daten-Notschrei: „gute Pandemiedaten braucht jedes Land. Jetzt.“
Schreibt Leserbriefe, sagt es weiter, geht Euren Abgeordneten auf die Nerven, lasst Euch nicht entmutigen und von hochnäsigen Admiralen bedrohen. Dann wird alles gut, fast.
Peter Mohler
*Sibylle Anderl, Abends nur noch drinnen? FAZ-Net, wer Corona satt hat, sollte mal ihr Buch „das Universum und ich“ lesen. Astrophysik kann wirklich Spaß machen.
** Dava Sobel, Longitude, 1995, deutsch: Längengrad- Die wahre Geschichte eines einsamen Genies, welches das größte wissenschaftliche Problem seiner Zeit löste.
*** DAGSTAT ist die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Statistik. Ihr gehören an: Deutsche Statistische Gesellschaft, Internationale Biometrische Gesellschaft – Deutsche Region, Fachgruppe Stochastik der Deutschen Mathematikervereinigung, Gesellschaft für Klassifikation, Verband deutscher Städtestatistiker, Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie, Verein zur Förderung des schulischen Stochastikunterrichts, Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie, Ökonometrischer Ausschuss des Vereins für Socialpolitik, Fachgruppe Methoden und Evaluation der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Sektion Methoden der Empirischen Sozialforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, European Network for Business and Industrial Statistics – Deutsche Sektion, DESTATIS – Statistisches Bundesamt, Sektion Methoden der Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft.
Schreibe einen Kommentar