Wilder Südwesten

Kategorie: Frankfurters Welt (Seite 3 von 5)

Die kleine Rassistin im deutschen Feature

Vor der Hitze fliehend, Ruhe suchend auf der Couch, von einem Feature zum anderen über Kontinente gleitend, betulich durch wilde Landschaften geführt, drohnenmäßig von Luftaufnahmen überwältigt, huch, wer ist denn da? Die kleine Rassistin aus dem Feuilleton meldet sich. Wie denn, was denn? Rassismus im deutschen, öffentlich rechtlichen Feuilleton? Na ja, was würden Sie über folgende Sequenz sagen: „Heinrich Müller verkauft im ICE Kaffee und Snacks von der Minibar an Reisende. Er ernährt damit seine Familie.“*  Wie bitte? Was für eine merkwürdige Feststellung! Nicht so im Standardfeature über Afrika, Südamerika oder Asien  „Mit dem Zug durch Sri Lanka“.* Ist doch klar, dass man aussprechen muss, wie die Leute dort von der Hand in den Mund leben und der Kleinunternehmer N. mit der Lizenz zum Snackverkauf im Zug seine Familie ernährt. Oder, Ruanda, die Leute dort holen nicht nur Methan aus einem See, der möglicherweise demnächst in die Luft fliegt, nein, sie haben auch ein Torfkraftwerk gebaut, worüber der deutsche Fachmann „nur den Kopf schütteln kann“. ** Welch eine Umweltsünde, sagt der Mann aus dem Land der Braunkohlekraftwerke.  Natürlich gibt es auch positiven Kleinrassismus im deutschen Feature. Herrlich, zum Beispiel, die Lobpreisungen asiatischen Geschäftssinnes (ist das wirklich ein Lob)?
Dazu kommt das ganze mit einer Betulichkeit daher, neben der Courths-Mahler eine reißerische Schriftstellerin ist. Verbunden ist das mit einem beständigen an-der-Scholle-festhalten, jede Veränderung ablehnend (in Ecuador soll es sozialen Wandel geben, weil das Internet auch in entlegene Gegenden kommt).
Dieses unterschwellige Beträufeln mit betulichen von oben herab Sanella-Bildern und Heimattönen, das ist der kleine tägliche Rassismus im deutschen Feature (die BBC ist noch ärgerlicher). Er  versperrt den Blick auf die Menschen, ihre Visionen, ihre Ziele, ihre Erfolge. Liebe Leut im Feuilleton lasst das.

Philipp Frankfurter
*Arte, Mit dem Zug durch Sri Lanka, Minute 19:07, https://www.youtube.com/watch?v=NiCHSPPGS50

**SWR2 WissenVulkan-Gas aus dem Kivu-See. Energie-Alternative in Afrika Von Thomas Kruchem. Sendungvom: Dienstag, 22. Juni 2021, 8.30 UhrRedaktion: Gábor Páal. Regie: Thomas Kruchem Produktion: SWR 2021

Fenmine – das Ende der Umfrageforschung?*

Jetzt muss die gesamte Umfrageforschung die Suppe auslöffeln, die ihr Spiegel, Welt und Co. eingebrockt haben. Zur Suppenküche der Umfrageforschung haben wir hier das Notwendige gesagt. Auch zur fraglichen Qualität gewisser sogenannter Institute hier.
Was zuletzt bei den Prognosen für die Wahl in Sachsen-Anhalt daneben ging, hat Jürgen Kaube in der FAZ vom 7. Juni 21 ein „demoskopisches Desaster“ genannt. Die schwache Ausrede läßt der Spiegel von einem Westdeutschen Wahlforscher so formulieren: Ostdeutschland (typischer Wessibegriff) sei halt „einfach ein Sonderfall“hier.
Aus einem Kopf-an-Kopf-Rennen wurde, oh Schreck lass nach, ein Kantersieg. Große Aufregung. Wieso die Aufregung? Wann gab es denn in den letzten Jahren die Prognose eines Kantersieges außer bei Wahlen in Diktaturen?
Mir wenigstens ist aus den letzten Jahren keine bedeutende Wahl in Deutschland oder Amerika erinnerlich, bei der nicht von einem „engen Rennen“ gesprochen wurde. So eng, dass mindestens zwei Parteien so eng miteinander verbunden waren, wie die Köpfe der Fenmine. Und wenn dann das sogenannte Rennen, welch aberwitziger Begriff für die öffentliche Bewerbung um Millionen Stimmen,  anders ausging, wurde ganz leise über die schwierigen Umstände gejammert oder eine Kommission eingesetzt die viele Monate später auch nichts genaues herausfand. Denn, weil die Welt so schwierig, so undurchsichtig geworden sei,  hätte man nicht klar sehen können was da kommt. Früher sei das alles viel klarer gewesen, sagt man. Oder, man plaudert von „self fulfilling prophecy“. Die Wählerschaft hätte auf die Prognosen in letzter Minute noch mal schnell reagiert. Ausreden für mangelnde Qualität gab es schon immer und gibt es immer noch genug, wie Mohler hier 2008 launig  erzählte.
Was soll man da noch sagen? Ist die Umfrageforschung am Ende? Nein, bitte nicht die Hype Wahlumfrage in einen Topf mit demokratienotwendiger Armutsforschung, Bildungsforschung oder Werteforschung und so weiter in einen Topf werfen.
Schauen wir stattdessen mal auf die Kundschaft der Wahlumfragen in unseren Zeiten, wo wie überall gilt: „wer zahlt, sagt an“.
Die Auftraggeber sind Medien. Ganz prominent die Umfragen der öffentlich rechtlichen Anstalten oder die mutmaßlichen Umfragen von Spiegel und Welt. Die zahlen das nicht aus Nächstenliebe, sondern, um damit Geld zu verdienen (ja, auch die Öffentlich Rechtlichen machen Knete über Zuschauerquote, zumindest vor 20 Uhr). Übrigens im Ende sind wir die Kunden, die spannend von den Medien bedient werden wollen und bedient werden. Dafür zahlen wir mit Informationsverlust.
Das war nicht immer so. Vor mehr als einem halben Jahrhundert konnte man auch in Deutschland einen fundamentalen Wandel in der Medienlandschaft beobachten. Bei Nachrichten war bis dahin das emotionslose Verlesen von Neuigkeiten im Stile eines Wasserstandsberichtes der sogenannte Gold Standard. Klassisch die soliden Vorträge der Tagesschau. Heiß her ging es dagegen in den Meinungsspalten. Insgesamt wurde so gut wie möglich zwischen Nachricht und Meinung getrennt. Gelegentlich sogar heftig darüber gestritten.
Aber dann kam Infotainment. Auch die Tagesschau und Heute sollten mit „Unterhaltungswert“ aufgepeppt werden. Das ZDF ersetzte damals seine Sprecher durch „Redakteure im Studio“. Da setzte die ewige Jagd auf die Goldwährung Quote ein. Keine Nachrichtensendung  mehr ohne Mord und Totschlag oder mindestens ein Feuer vor der Wettervorhersage, das gab so schöne Bilder.
Und heute? Werden Themen aufgemotzt mit Direktschaltung in den Brennofen des Lebens, verschämt verbrämt mit kurzen vorgelesenen Nichtigkeiten.
Meint da irgend noch jemand, man könne Tag für Tag eine Sendung oder Zeitung mit der Schlagzeile aufmachen „Adenauer wird die Wahl sicher gewinnen“. Das lesen weder Sie noch ich. Nein, wir lechzen nach Spannung und die verspricht ein Kopf-an-Kopf –Rennen. Spannung bis zum letzten Moment, das wollen wir doch, oder? Wie dämlich müssten die Medien sein, uns nicht das zu liefern, nach dem wir lechzen?
Selbst wenn das mal so deutlich wie in Sachsen-Anhalt in die Hose geht, kann man aus den Ausreden noch eine Menge Geld/Quote holen.
Also, worüber beschweren wir uns? Dass wir bekommen, was wir wollen?
Philipp Frankfurter
*Fenmine – doppelköpfige Drachenfabelwesen auch Amphisbaena genannt

 

Fit for the intended use

Da sitze ich und löffle genüsslich einen wunderbar künstlichen Joghurt (warum mit h und nicht mit y?) aus dem Glas. Ach wie zeitgemäß ich doch bin. Kein Plastik, nur Metall und Glas. Da fällt mein Auge auf die Banderole: „Um das Glas nicht zu beschädigen, bitte keinen Metalllöffel zum Verzehr verwenden. Bitte Pfandglas ausgespült mit Verschluss zurückgeben.“
Da fällt mir doch glatt der Löffel ins Glas zurück. Soll ich etwa einen Plastiklöffel nehmen? Oder den uralten perlmutternen? Ja, was ist denn das? Ein Glasbecher aus billigstem Pressglas ist nicht löffelfest? Muss ich als Kunde schon wieder die Unfähigkeit der Hersteller ausgleichen?
Aus meiner kleinen Weltsicht ist der Glasbecher ungeeignet für seinen Verwendungszweck als Joghurtbehältnis (wenn ich den Inhalt vor dem Verzehr umfüllen sollte, warum ist dann der Becher oben so eng, dass ich gerade so mit einem Esslöffel hineinkomme und die letzten 10% nur mit dem Finger herauspfrimeln kann?).
Qualität wird heutzutage als „fitness for the intended use“ (für den vorgesehenen Zweck geeignet) definiert. Die Qualität eines Joghurtbechers sollte demnach sein, ein Nahrungsmittel unverdorben an die Esser zu bringen und das so, dass man das Nahrungsmittel mit minimalem Aufwand verzehren kann. Dazu gehört ein beliebiger Löffel oder Spatel und auch nicht die Notwendigkeit, die Verpackung nach Gebrauch sauber zu spülen.
Stattdessen sieht das Glas aus wie eine altmodische Milchkanne, deren Verschluss in der Spülmaschine gerne durch den Rost fällt und deren Banderole den Filter der Spülmaschine verstopft. Sie fragen, was hat der Joghurtbecher in der Spülmaschine zu suchen? Er gehört dorthin, dichtgepackt mit allem anderen, weil das die ökologischste, energie- und wassersparendste Art ihn zu reinigen ist, wenn man er Presse glauben darf.
Schauen Sie sich um. Wo wird Ihnen etwas angeboten, das wirklich fit ist? Eigentlich jede Menge, solange es sich nicht um so einzigartige Prestigeartikel wie Joghurt im Glas handelt: Streichhölzer, schlicht in einer Pappverpackung, Butter in Alufolie, Brot in der Tüte, echte E-Mails mit ordentlichem Betreff, solide Politik ohne Notstandsprogramm. Sobald jedoch so etwas wie „Wertigkeit“ dazukommt, es also nicht mehr um die Erdbeere im Joghurt, sondern das „besondere Produkt“ geht, wird die Verpackung wichtiger als der Nutzen.
Wie eine hässliche Schleimspur zieht sich der Wertigkeitvortäuschungsversuch durch unser Leben. Wenige Beispiele: Nachrichten – nicht mehr ohne Infotainment, Auto – nicht mehr ohne Wurzelholz oder Großbildschirm, Nahrungsmittel – nicht mehr ohne Gesundheitspass, Änderung der Verkehrsregeln – nicht ohne Talkshow und Pseudoshitstorm, vor Mitternacht – bitte ohne Lanz.
Ach und bei all dem Übel, bin ich denn fit for the intende use? Oder bin ich gar useless?
Philipp Frankfurter

Adolf Hitlers letzter Sieg?

Habe ich Ihre Aufmerksamkeit erregt? Gut bleiben Sie dran. Zuerst aber zum kleinen Einmaleins, nein, vielleicht doch eher zum Sport. Das höchste Lob, das ich als Torwart erfuhr, war der Beifall des Gegners für eine gelungene Abwehr. Besseres konnte einem nicht passieren. Hätte mir einer gesagt, ich sollte weniger gut spielen, damit die Gegner nicht applaudieren, hätte ich an dessen Verstand gezweifelt. Da passt auch das kleine Einmaleins hin: sagt einer von der Afd 1+1=2, stimmt das dann oder muss ich das politisch hinterfragen? Oder stimmt mir einer von der AfD zu, wenn ich sage 2+2=4, bin ich dann ein Rechter? Was ist wirklich dran am „falschen Beifall von der falschen Seite“? Oder trifft das nur auf Söder zu?
Nähern wir uns Adolf Hitlers letztem Sieg. Als ich aufwuchs, trauerte man noch über den Verlust der messerscharfen jüdischen Satire, Kritik und Philosophie. Nur aus Büchern konnte man erahnen, welche kulturelle Triebkraft in Deutschland fehlte. Sehr, sehr vereinzelt konnte man die Luzididät dieser Denkschule am Horizont aufleuchten sehen. Stattdessen machte sich der deutsche Besinnungsaufsatz breit. Wie sagte doch der amtlich bestellte Lehrer? „der Schüler ersetzt durch Tiefe, was er an Breite vermissen läßt“. Ja, breit, sehr breit alle möglichen Argumente aufführen, umrühren, zusammenführen und ein abgetropftes, abgestandenes, niemanden beunruhigendes Ergebnis formulieren. Breitstrahler, am besten rosarot, anstelle scharfer Laser.
Eine Gesellschaft, die verlernt hat, mit dem scharfen Laser jüdischer Tradition umzugehen, verbrüht sich am sanften Licht der besinnlichen deutschtümlichen Bräsigkeit und Oberlehrerhaftigkeit.
Adolf Hitler und seine vielen Gefolgsleute haben die deutsche Kultur ihrer jüdischen Tradition beraubt. Die unsäglichen Debatten um  künstlerische Verarbeitungen der allgemeinen Coronitis deuten Hitlers letzten Sieg an. Wollen wir das wirklich hinnehmen? Oder vielleicht doch dann lieber den guten Paraden der Gegner Beifall zollen?
Philipp Frankfurter

Brief aus der Zukunft

Landswinda Vilare, 30. Mai 2111

Lieber Philipp,
morgen öffnen die Staatsarchive ihre Tresore zur Coronakrise von 2020. Aus Deinem Nachlass weiß ich, wie Dich diese Krise damals umgetrieben hat. Die fast wöchentlich wechselnden Informationen über das, was damals Covid19 hieß, haben Dich offensichtlich immer wieder sehr beschäftigt. Wie konntest Du das damals nur aushalten? Ich schreibe Dir heute, am Tag vor der Wahrheit, um mich Deiner und Deiner Generation zu erinnern, um noch einmal mir vor Augen zu führen, was vor fast hundert Jahren alles an Wahrheiten, Gerüchten, Machtspielen und platten Lügen auf Euch prasselte.
Da ist zuerst die bis heute offizielle Geschichtsschreibung, nach der ein todbringender Virus innerhalb weniger Monate sich über tausende von Kilometern verbreitete. Er wütete anfänglich sehr unterschiedlich; in München, dort schnell lokalisiert und eingedämmt, in Bergamo dagegen übel wütend, von Wuhan kennt man nur Ungefähres. Dann durchdrang er alle Welt. In Deiner Heimat, damals Europäische Union, heute Teil von  Palatina Occidentalis, traf er auf ein vernachlässigtes, ökonomisch ausgerichtetes Gesundheitssystem, das mit voller Wucht getroffen wurde und sich seitdem nicht mehr erholt hat, sondern gemeinwirtschaftlich betrieben werden muss.
Viele, auch Du, wollten einen klaren Kopf bewahren, alles tun, was möglich sei um eine Katastrophe abzuwenden. Die Bürokratie versuchte ihr Bestes, die Politik hörte auf manche Wissenschaftlers, Ihr Menschen ward damals enorm geduldig.
Von heute auf morgen habt Ihr Euer Leben auf den Kopf gestellt. Ihr habt privat auf fast alles, was das Leben wert macht, verzichtet, um schlecht geführte Pensionistenheime und die große Wirtschaft zu schützen. Immer wieder hat man Euch gesagt „haltet durch, in ein paar Wochen ist alles vorbei“. Im letzten großen Krieg haben das die Leute „Durchhalteparolen“ genannt. Wie gebannt habt Ihr auf die täglichen Nachrichten des Robert-Koch-Instituts gestarrt. Gehofft habt Ihr, dass die Zahlen irgendwie der Wirklichkeit entsprechen, weil Ihr sonst verrückt geworden wärt. Welle auf Welle habt Ihr durchgestanden, ohne dass klar war, wo genau der Virus zuschlug (morgen werden auch diese Daten öffentlich). Und dann, am 22. September 2021, als in Deiner Heimat der Notstand offiziell für beendet erklärt wurde (ein halbes Jahr nach anderen Ländern),  habt Ihr nicht einmal mehr die Kraft zum Feiern gehabt.
Das ist die eine Geschichte, die offizielle.
Parallel dazu wurde alles, was möglich ist erfunden, auch, dass es den Virus nicht gab. Das habt Ihr locker als Lüge weggeschoben. Andere Narrative haben Euch mehr zu schaffen gemacht. Etwa das Narrativ der relativen Harmlosigkeit des Virus, weil  bestimmte Rechnungen keine höhere Sterblichkeit ergaben. Dass das Maskentragen sogar die Grippe praktisch zum Erliegen gebracht hatte. Andere behaupteten, die hohe Sterblichkeit der künstlich Beatmeten sei auf Behandlungsfehler zurückzuführen, weil viel zu viele an die Beatmungsgeräte angeschlossen worden seien und diese seien reine Bakterienschleudern. Andere bezweifelten die Gültigkeit und Zuverlässigkeit der offiziellen Daten. Sie seien so schlecht erhoben worden, dass selbst der Papierkorb zu schade für sie gewesen sei.
Das alles habt Ihr weggesteckt, weiter gemacht, nicht die Bazooka ausgepackt, nicht die radikalen Parteien gewählt, nicht den großen Populisten auf den Leim gegangen (wohl aber den kleinen). Hut ab, Respekt. Ich weiß nicht, wie ich mich an Eurer Stelle verhalten hätte. Wahrscheinlich hätte ich revoltiert, aber das ist im Nachhinein leicht gesagt (vor allem unter der gütigen Herrschaft von Miranda III, Kaiserin von Palatina Occidentalis).
Lieber Philipp, ich hoffe, morgen wird das offizielle Narrativ bestätigt. Alles andere wäre sehr, sehr traurig. Hoffen wir.
In liebevoller Erinnerung
Dein Urgroßneffe
Heinrich Philipp

Grüns Worte

Als ich einmal in einem Artikel schrieb, ein analysierter Text habe „2434 Worte“ enthalten, gab mir  ein sehr wohlmeinder Kollege den Hinweis „Gott spricht Worte“, mein Text enthalte dagegen „Wörter“. Recht hatte er und hat noch heute Recht. Aber wir beide haben die Rechnung ohne Detlev Grün*, RTL und Konsorten beziehungsweise der Individualisierungswelle gemacht. Die abgehobene Sprechweise der „Worte“ gegenüber den angebrachten „Wörtern“ hat es sich in unserer Alltagssprache gemütlich gemacht. Hören Sie mal anderen Leuten zu: man geht zu Tisch, nimmt eine Kleinigkeit zu sich, gönnt sich einen edlen Tropfen und hat kleines Geld ausgegeben, anstelle von Mittagspause machen, etwas essen,  ein Glas Wein genießen und wenig bezahlen. Hänschen Müller berichtet in Grüns Worten über seine erste Speckfalte als sei es ein königliches Leiden. Le roi c‘ est moi oder so, wie der gebildete Pfälzer sagt. Jeder ist sein kleiner König im Traumland: jeder macht Traumurlaub, Traumhochzeit oder Traumnarkose. Wann hatten Sie zuletzt mal herzlich gelacht? Ich würde sagen wollen, das sei schon lange her und da bin ich ganz bei Ihnen, wobei ich nicht weiß, ob Sie ganz bei Sinnen sind und ich auch nicht.

Philipp Frankfurter
*Detlev Grün ist Hauptkommissar in der ZDF Serie „Heldt“ und ein Wunder der abgehobenen Stelzsprache

Der Lotse bleibt an Bord

Wir haben einen starken Kanzler. Sein Name ist Merkel und nicht Bismarck, auch wenn jetzt manche Kanzler Merkel einen ähnlichen Abgang wünschen. Warum gerade jetzt? Weil sie keine sechs Monate mehr warten können, weil sie Lust auf Königsmord haben, weil sie höchstwahrscheinlich nach ICD 10 klassifizierbar oder einfach Nachschwätzer des Spiegel sind?
Dem Kanzler wird vorgeworfen, bei Corona versagt zu haben. Ebenso seinem Gesundheitsminister. Beide sind mir nicht ungeheuer sympathisch. Jedoch, wie kann man da versagen, wo andere zuständig sind? In Sachen Gesundheit ist der Kanzler ein Feldherr ohne Armee. Wir haben 16 Ministerpräsidenten, die über Gesundheitsarmeen verfügen sollten. Tun sie aber immer noch nicht, seit sie diese abgeschafft haben. So stehen sie jetzt nackt da und jammern. Loyal, wie er ist, lässt der Kanzler die Geizhälse nicht im Regen stehen, greift tief in seine Schatulle, schleppt die Herrschaften an einen Verhandlungstisch, lässt sie dort stundenlang palavern, beschimpft sie nicht, leidet öffentlich und nimmt die Schuld mit einem leichten Zucken auch noch auf sich.
So geht das nicht. Deshalb sie hier der Rücktritt aller Ministerpräsidenten verlangt. Sie haben das Gesundheitssystem geplündert. Sie haben versäumt, über den Bundesrat den Zivilschutz ordentlich zu finanzieren. Sie lassen ihre Gemeinden am langen Arm verhungern. Und sie haben noch viel mehr Unheil mit ihrer Herrschsucht angerichtet.
In diesem Sinne: es lebe der Kanzler und in den Staub mit den bundesländlichen Feinden des Gesundheitssystems.

Philipp Frankfurter

Zum Weltmenschentag 2021

Es geschieht selten, dass ich ein Buch in hohem Bogen in den Papierkorb befördere.  So geschehen vor vielen Monaten mit Sloterdijks Briefroman, dessen Titel unerwähnenswert ist. Als ich an die Stelle „kein Mensch versteht die Frauen“ kam, erfolgte sofort der Abwurf in den Papierkorb. Ein Philosoph, der einen derartigen Denkfehler schreiben kann, ist keiner. Denken Sie mal nach, was dieses Mann da gemacht hat.
Heute dazu mal was in Sachen Sprache. Die Sache mit dem grammatischen und dem „wirklichen“ Geschlecht ist verzwickt. Vor allem aber ur- ur- uralt. Und völlig ungeordnet in Europa, mindestens, was das Mond angeht. Nehmen wir mal an, das „Geschlecht“ wäre amtlich völlig uninteressant, etwa indem dazu nichts mehr in der Geburtsurkunde oder einem Ausweis steht, Vornamen nach Belieben vergeben werden könnten (wenn man die Fingerabdrücke im Ausweis hat, braucht man eigentlich nicht einmal ein Bild, um eine Person eindeutig zu identifizieren). Heiraten, Armee, Geschäft aufmachen? Mindestalter 18, basta.
Und jetzt zur Sprachrevolution:
Natürlich wissen wir alle, wie sehr das grammatische Geschlecht den Spracherwerb behindert, Bildungsschranken aufbaut, Berufschancen mindert. Gehen wir also davon aus, der grammatische Begriff färbe auf die Wirklichkeit heftig ab. Dann muss was gegen diesen Einfluss sprachlich unternommen werden. Wenn wir das so wollen, und viele wollen das, dann sollten wir uns etwa einfallen lassen.
Was uns bisher einfiel sind Reförmchen, nach dem Motto, „ich möchte explizit genannt werden“. Bäcker*innen ist derzeitig wohl aktueller Stand. Möglichst auch hörbar gesprochen. Was ein Umstand. Ein neuer Buchstaben, ein neuer Laut. Geht es auch nicht einfacher?
Wo ist denn das Neutrum geblieben? Keiner spricht vom Neutrum, wenn es um das grammatische Geschlecht geht. Ein weit unterschätzter Begriff. Was kann man damit machen?
Warum schafft keiner das grammatische Geschlecht ab? Man vereinfacht die deutsche Sprache, indem man Feminin und Maskulin abschafft und nur einen Fall, den Nominativfall nutzt, aka N-Fall.
Das wäre doch mal eine echte Sprachreform! Hier ein anderes Text in das zeitgemäße N-Form:
Von jetzt an wird für ein Substantiv, was immer es bedeuten mag,  das N-Fall genutzt. Also: das Bäcker, das Maler, das Mensch, das Chirurg, das Komponist, das Dirigent, das Soziologe, das Mond, das Sonne. Klingt erst mal gruselig? Ach, das ist wie mit Austern, erst mal gruselt man sich, dann schlürft man sie in sich hinein, ohne sich beim * zu verschlucken und so weiter. Außerdem, wenn die Engländer das können, können wir das erst recht. Übrigens, wer die Wörter im Plural nutzt, merkt fast gar nichts ihr lieben Leute.
Philipp Frankfurter

Coronopoly, das Spiel des Jahres

Das Spiel des Jahres heißt Coronopoly. Ministerpräsidien und Kanzlerin spielen es mit großer Ausdauer auf ihren Mittwochsrunden. Der Innenminister hat Coronopoly als „fast Glücksspiel“ (ab 16 Jahre) eingestuft. Es zeichnet sich durch hohe Dynamik aus. Sein Alleinstellungsmerkmal ist die völlige Siegerlosigkeit: Keiner kann gewinnen. Unter den Strategiespielen ist es das beste Sorglosigkeitsspiel. Seine wirkmächtigen Wiederholungsschleifen sind bislang unerreicht.
Die Regeln sind sehr einfach:
Würfeln Sie keine 6, sonst kommen Sie in Quarantäne. Würfeln Sie keine 5, sonst kommen Sie in Quarantäne. Würfeln Sie keine 4, sonst kommen Sie in Quarantäne. Würfeln Sie keine 3, sonst kommen Sie in Quarantäne. Würfeln Sie keine 2, sonst kommen Sie in Quarantäne. Würfeln Sie keine 1, sonst werden Sie nach Bayern zwangsumgesiedelt.
Wenn Sie über LOS kommen, erhalten Sie einen Impfpunkt. Mit 10 Impfpunkten brauchen Sie nicht mehr zu würfeln und dürfen gleich nach Bayern einreisen. Wenn Sie auf das Gefängnisfeld fallen, erhalten Sie 10 Minuten kostenloses Lauterbächeln. Finden Sie sich in der Parkallee wieder, sind Sie 10 Jahre von der Steuerflüchtlingssteuer befreit. Fallen Sie in den Graben, müssen Sie zweimal hintereinander eine 6 würfeln, dann holen Sie Drosten & Streek wieder raus. Wer zuerst hustet, hat verloren. Das Spiel endet mit dem letzten Husten.
Die Entwicklung von Coronopoly wurde mit Mitteln des Bundes gefördert.

Philipp Frankfurter

Das verblasste Dreigestirn

Aschermittwoch, das Dreigestirn ist abgetreten, sein schwacher Schein verblasst. Nun ist es wieder Zeit für neues Altes, das Dreigestirn Maske, App und Test. Was hat die App hier und heute noch zu suchen? 35 ist die neue Allzahl. Ich kenne keine Kultur, bei der die 35 eine Glückszahl ist. Also dann doch wieder die APP, trotzt sie doch mit Updates dem Vergessen. Ich kann jetzt sogar ein Tagebuch führen! Warum macht das die APP nicht für mich? Was, ich soll Personen „anlegen“ und „Orte“ eingeben? Wozu läuft mein Ortungssystem? Was soll der Humbug? Datenschutz! Datenschutz! Nein, Datenstuss, aber echt. Wieso können Wissenschaftler auf hochsensible Daten des Rentensystems zugreifen ohne gekniffen zu werden? Weil viel Arbeit und Intelligenz in den Datenschutz gesteckt wurde. Haben Sie schon mal etwas von Datentreuhändern gehört? Das sind Institutionen, wo sensible Daten von gierigen Nutzen ferngehalten werden und zugleich aus sensiblen Informationen wissenschaftlich nutzbare abgespeckte Daten werden, die man im besten Falle auf der Straße vergessen kann, ohne dass ein Unheil geschehen kann. Warum ist das bei Corona, wo es wortwörtlich um Leben und Tod geht, nicht möglich? Haben die Entwickler von SAP und Telekom noch nie etwas vom Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten gehört? Wurden die Spezialistinnen des Statistischen Bundesamtes oder der Rentenversicherungen oder der Wissenschaft angesprochen?
Ich will eine APP, die funktioniert. Punkt.
Philipp Frankfurter

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